Volltext: Jahresbericht 2008 (2008)

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Es gehört zum Besonderen dieser Bilderfindung, dass 
in ihr etwas Aufschwebendes mitschwingt – fast mehr 
alsindieTiefesinddieGruppenindieHöhegestaf- 
felt, stärker als die überspielte Erdverwurzelung der 
dünnen Stämmchen ist das Aufstreben der ballonar- 
tig kugeligen, blühenden Baumkronen, ein Effekt der 
Überbetonung der Flächigkeit. 
Damit kommen wir zum Ausdruckswert dieser 
mit Farben bedeckten Fläche,dennesgeht hier nicht 
umeinleeresSpielderFormen,sondernumEmotio- 
nen, die aus der Seele des Künstlers aufsteigen und 
durch dessen Imagination das Kunstwerk mit ihrem 
Gehalt erfüllen. Rein durch die Schönheit der Lin ien 
und Farben sollen sich diese «états d’âme» mitteilen. 
AndieStelleeinesAbbildsderäusserenWeltoderder 
«von einem Temperament gesehenen Natur», wie die 
Losung der vorangegangenen Generation lautete, tritt 
etwas Imaginäres, das als ein Anderes, Paralleles, 
Gleichnishaftes neben die Natur tritt und ihren tie fen 
Sinn enthüllt. Die Verbindung der beiden Sphären leis- 
ten die «Äquivalenzen» zwischen den Ausdruckswer- 
ten der reinen Formen und den Anmutungsqualitäten 
der Naturerscheinungen, für die Gauguin den Jünge- 
rendieAugengeöffnethatteunddiesieauchbeivan 
Gogh und Cézanne fanden. Ausgangspunkt und Basis 
dieses künstlerischen Denkens und Vorgehens bil de- 
te die symbolistische Dichtung mit ihrer Vorliebe für 
kühne Metaphern und synästhetische Entsprechun- 
gen, wie sie von Baudelaires «Correspondances» bis 
zu Rimbauds «Voyelles» paradigmatisch in Gedichten 
zum Ausdruck gebracht wurden. Dasvomjungen Denis 
und seinen Mitstreitern so he ftig abgelehnte «Literari- 
sche»alsAnekdoteundInhaltkehrtnunalsMethode 
des Poetischen zur ück: Die Formen und Farben sollen 
nicht nur in ihrem Eigenwert zusammenklingen wie 
Musik, das Kunstwerk soll auch wie ein Gedicht «poi- 
ein», ein künstlich Gemachtes und Geschaffenes sein, 
nicht einfach eine Abbildung. Auch dieses Prinzip wur- 
de für die Kunst bis heute grundlegend und eröffnete 
ganz neue Vorgehensweisen. 
Maurice Denis beabsichtigte mit seiner Kunst frei- 
lichnocheinWeiteres.Vonjungaufundzeitlebenswar 
erscheint der «Virginal printemps» wie eine farbi ge 
Wolke,undkommtmannäher,wirkteralsgerahm- 
te Tapete, so dominant ist das Dekorative. Tatsäch- 
lich muss man bis zu spätgotischen Tapisserien, den 
«Millefleurs»-Teppichen oder der berühmten Serie 
der«DamemitdemEinhorn»imMuséedeCluny 
zurückgehen, um in der europäischen Kunst ein solch 
einheitlich rein farbenes Terrain zu finden, von zuvor- 
derstbiszuhinterst,vomunterenbisfastandenobe- 
ren Bildrand. Man fühlt sich an persische Miniaturen 
erinnert mit ihrer Vorliebe für blühende Bäume, zarte 
helle Farben, arabeskenhafte Muster, die hier in den 
Schatten, in der Hecke ein völlig flächiges Eigenleben 
entwickeln. Vor allem wird wie dort jede Modellierung 
sorgfältig vermieden – «l’agaçante manie, incrustée 
en nous, de moduler». 
Kunstvoll und schlicht ist die Komposition der Far- 
ben. Den Hauptklang schlagen das leichte Rosa und 
das helle, gelbliche Grün an, eine frühlingshaft heitere 
Variante des elementaren Rot-Grün-Komplementär- 
kontrastes. Die tieferen Töne bildet das edle Paar von 
Blau und Rot, sonor aber gedämpft im Ornamentband 
oben einsetzend und in den Stämmchen und Scha t- 
tenbisunten wirksam. In subtiler Spannung hebt das 
Ora nge der pappelförmig aufflammenden Bäumchen 
die oben re chts mehr angedeutete als ausformulierte 
Kommunion hervor. Offensichtlich ist nun die Musik, 
die mit ihren Harmonien, Melodien, Rhythmen die 
seelische Gestimmtheit ganz unmittelbar ausdrückt, 
das Vorbild für alle künstlerischen Wirkungsweisen. 
Entsprechend kommt auch dem Rhythmus eine zen- 
trale Rolle zu, gestaltet in den sich kreuzenden, sich 
nirgends verfestigenden Diagonalen der blühenden 
Bäumchen und weissen Figuren. Indem Denis vorn 
kleinere Gewächse malt, unterläuft er die perspekti- 
vische Wirkung, die einer solchen Anordnung inhärent 
ist, und lässt ihre die Fläche strukturierende Anmu- 
tung voll zur Geltung kommen. Zur Neutralisierung 
der nicht unbeträchtlichen Tiefenerstreckung trägt die 
ebenfalls aus der Kunst der «Primitiven» des 15. Jahr- 
hunderts bekannte, antinaturalistische Verbindung von Aufsicht im Ganzen und Ansicht im Einzelnen bei.
	        
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