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währenden Arbeitsprozess, so e rgibt sich möglicher-
weise ein Zusammenhang zwischen der Arbeitsdauer
undder Frage der Vollendung des Werks. Erst wenn
eine gewisse Sättigung erreicht ist, wenn die Hand-
s chrift der zahllosen Einzellinien, deren Duktus bis zum
Schluss sichtbar bleibt, übergeht in das fluktuierende
Netz eines die Bildränder unterlaufenden Liniengewe-
bes,erstdannwird die Arbeit abgesetzt.7 Doch wann
ist dieser Zeitpunkt erreicht?8 Peter Wechsler ist sich
der Schwierigkeit bewusst; er weiss, wie schnell sich
ein Automatismus einstellt, der die Fläche mechanisch
mit einem beliebigen Strichmuster überziehen würde.
Die zeichnende Hand muss deshalb bei ihrem Tun
ständig beobachtet werden, nicht kontrolliert oder gar
geführt, denn dies würde den subtilen inneren Impuls
empfindlich stören.9 Schon beim ersten Str ich gilt es,
sämtliche Bedingungen der Zeichnung präsent zu hal-
ten – Format, Bildränder, Oberflächenbeschaffenheit,
Härte des Bleistifts, Bewegungsrichtung, Druckstärke,
etc.UnddochgibtesauchindieservonallenBindun-
gen an Vorbilder und bildnerischen Absichten befreiten
Zeichenweise gewisse Gesetzmässigkeiten zu beach-
ten, die für ein Vorankommen von nicht zu unterschät-
zender Bedeutung sind. Ohne solche Einsichten in das
Wesen der Zeichnung wäre die Werkreihe in den zwölf
Jahrenvon1994–2006wohlnieübereinenerstenVer-
such hinaus gewachsen. Die eindrückliche Zahl du rch-
aus eigenständiger Kunstwerke, die den Betrachter
jedes Mal mit neuen und komplexen Wahrnehmungs-
erlebnissen konfrontieren, ist Beweis gen ug, welchen
Erkenntniszuwachs Wechsler dem freien Zeichnen mit
der Hand heute noch zumutet.
Drei Aussagen aus der bereits erwähnten S chrift
über die Handzeichnung, in welcher er seine Erfa h-
rungen und Einsichten darlegt, scheinen mir gerade
im Hinblick auf die Zürcher Zeichnung von Bedeutung.
In der Anfangsphase bemüht sich der Zeichner, das
Liniengefüge solange wie möglich offen zu halten, Bin-
dungen zwischen den verschiedenen Bildzentren zu
vermeiden, die Verdichtung an verschiedenen Stellen
gleichzeitig voranzutreiben, so dass in jedem Arbeits-
stadium, ähnlich wie bei den späten Aquarellen von
Cézanne, die Fläche gleichmässig mit Linien bedeckt
is t.10 Mit der Zeit wachsen die Bildzentren zusammen.
Im Konzert der prägnantesten Linienverläufe bilden
sich auch «Solisten» mit starkem Selbstbehauptungs-
willen heraus, die vom Linienteppich abheben, diesen
aber in seinem Zusammenhalt auch verstärken. Linien
haben einen Hang, sich zu kreuzen und zu überschnei-
den. An solchen Linienkreuzungen bil den sich Knoten,
«Orte erhöhter Liniendichte», wie sie Peter Wechsler
bezeichnet.11 Sie strukturieren das Bildfeld wie Ner-
venzentren, in denen die Bewegungsimpulse zentriert
und wieder in den Raum ausgesendet werden. Kein
Raster, keine geometrische Struktur liegt dem Lini-
engewebe zugrunde. Es scheint, als reguliere sich der
zeichnerische Prozess von selbst, sobald eine gewisse
Komplexität erreicht ist. In solchen seltenen Augen-
blicken erlebt Peter Wechsler «Momente der glückli-
chen Hand», dann nämlich, wenn esihr gelingt, «im
formvollendeten Rhythmus zu tanzen».12 Und wieder
helfen Metaphern über die momentane Verlegenheit
hinweg. Im Klartext: Hand und Kopf kooperieren als
aufeinander angewiesene Handlungsinstanzen. Wir
wissen heute, dass alle Leistungen des Gehirns – die
manuellen und die bewussten, hoch abstrakten – das
Erge bnis der Interaktion von Nervenzellen in kleineren
und grösseren Verbänden sind. Das bedeutet, Denken,
Ich, Bewusstsein sind das Produkt der Tätigkeit soge-
nannter «neuronaler Netzwerke».13
Istesdas,wasunsdieZeichnungenvonPeter
Wechsler bewusst machen möchten? Die pedantische
Trennung von Vorgängen, die sich vor unseren Augen
abspielen, von komplexen, inneren Prozessen, die am
Zustandekommen eines Strichs beteiligt sind, lässt
sich,wiezur Genüge bekannt ist, nicht mehr aufrecht-
erhalten. Peter Wechsler, der mit einer Ärz tin verhei-
ratet ist, bleiben solche Zusammenhänge nicht verbor-
gen. In seinen Formulierungen tastet er sich vorsichtig
an eine erweiterte Wahrnehmung heran. Das Erzeu-
gen der räumlichen Illusion, mit anderen Worten, das
über die zeichnerische Faktur Hinausweisende, Tran-
sitorische, gehört wesentlich in den Bereich seines Darstellungskonzepts. «In der vollendeten Zeichnung