Volltext: Jahresbericht 2008 (2008)

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währenden Arbeitsprozess, so e rgibt sich möglicher- 
weise ein Zusammenhang zwischen der Arbeitsdauer 
undder Frage der Vollendung des Werks. Erst wenn 
eine gewisse Sättigung erreicht ist, wenn die Hand- 
s chrift der zahllosen Einzellinien, deren Duktus bis zum 
Schluss sichtbar bleibt, übergeht in das fluktuierende 
Netz eines die Bildränder unterlaufenden Liniengewe- 
bes,erstdannwird die Arbeit abgesetzt.7 Doch wann 
ist dieser Zeitpunkt erreicht?8 Peter Wechsler ist sich 
der Schwierigkeit bewusst; er weiss, wie schnell sich 
ein Automatismus einstellt, der die Fläche mechanisch 
mit einem beliebigen Strichmuster überziehen würde. 
Die zeichnende Hand muss deshalb bei ihrem Tun 
ständig beobachtet werden, nicht kontrolliert oder gar 
geführt, denn dies würde den subtilen inneren Impuls 
empfindlich stören.9 Schon beim ersten Str ich gilt es, 
sämtliche Bedingungen der Zeichnung präsent zu hal- 
ten – Format, Bildränder, Oberflächenbeschaffenheit, 
Härte des Bleistifts, Bewegungsrichtung, Druckstärke, 
etc.UnddochgibtesauchindieservonallenBindun- 
gen an Vorbilder und bildnerischen Absichten befreiten 
Zeichenweise gewisse Gesetzmässigkeiten zu beach- 
ten, die für ein Vorankommen von nicht zu unterschät- 
zender Bedeutung sind. Ohne solche Einsichten in das 
Wesen der Zeichnung wäre die Werkreihe in den zwölf 
Jahrenvon1994–2006wohlnieübereinenerstenVer- 
such hinaus gewachsen. Die eindrückliche Zahl du rch- 
aus eigenständiger Kunstwerke, die den Betrachter 
jedes Mal mit neuen und komplexen Wahrnehmungs- 
erlebnissen konfrontieren, ist Beweis gen ug, welchen 
Erkenntniszuwachs Wechsler dem freien Zeichnen mit 
der Hand heute noch zumutet. 
Drei Aussagen aus der bereits erwähnten S chrift 
über die Handzeichnung, in welcher er seine Erfa h- 
rungen und Einsichten darlegt, scheinen mir gerade 
im Hinblick auf die Zürcher Zeichnung von Bedeutung. 
In der Anfangsphase bemüht sich der Zeichner, das 
Liniengefüge solange wie möglich offen zu halten, Bin- 
dungen zwischen den verschiedenen Bildzentren zu 
vermeiden, die Verdichtung an verschiedenen Stellen 
gleichzeitig voranzutreiben, so dass in jedem Arbeits- 
stadium, ähnlich wie bei den späten Aquarellen von 
Cézanne, die Fläche gleichmässig mit Linien bedeckt 
is t.10 Mit der Zeit wachsen die Bildzentren zusammen. 
Im Konzert der prägnantesten Linienverläufe bilden 
sich auch «Solisten» mit starkem Selbstbehauptungs- 
willen heraus, die vom Linienteppich abheben, diesen 
aber in seinem Zusammenhalt auch verstärken. Linien 
haben einen Hang, sich zu kreuzen und zu überschnei- 
den. An solchen Linienkreuzungen bil den sich Knoten, 
«Orte erhöhter Liniendichte», wie sie Peter Wechsler 
bezeichnet.11 Sie strukturieren das Bildfeld wie Ner- 
venzentren, in denen die Bewegungsimpulse zentriert 
und wieder in den Raum ausgesendet werden. Kein 
Raster, keine geometrische Struktur liegt dem Lini- 
engewebe zugrunde. Es scheint, als reguliere sich der 
zeichnerische Prozess von selbst, sobald eine gewisse 
Komplexität erreicht ist. In solchen seltenen Augen- 
blicken erlebt Peter Wechsler «Momente der glückli- 
chen Hand», dann nämlich, wenn esihr gelingt, «im 
formvollendeten Rhythmus zu tanzen».12 Und wieder 
helfen Metaphern über die momentane Verlegenheit 
hinweg. Im Klartext: Hand und Kopf kooperieren als 
aufeinander angewiesene Handlungsinstanzen. Wir 
wissen heute, dass alle Leistungen des Gehirns – die 
manuellen und die bewussten, hoch abstrakten – das 
Erge bnis der Interaktion von Nervenzellen in kleineren 
und grösseren Verbänden sind. Das bedeutet, Denken, 
Ich, Bewusstsein sind das Produkt der Tätigkeit soge- 
nannter «neuronaler Netzwerke».13 
Istesdas,wasunsdieZeichnungenvonPeter 
Wechsler bewusst machen möchten? Die pedantische 
Trennung von Vorgängen, die sich vor unseren Augen 
abspielen, von komplexen, inneren Prozessen, die am 
Zustandekommen eines Strichs beteiligt sind, lässt 
sich,wiezur Genüge bekannt ist, nicht mehr aufrecht- 
erhalten. Peter Wechsler, der mit einer Ärz tin verhei- 
ratet ist, bleiben solche Zusammenhänge nicht verbor- 
gen. In seinen Formulierungen tastet er sich vorsichtig 
an eine erweiterte Wahrnehmung heran. Das Erzeu- 
gen der räumlichen Illusion, mit anderen Worten, das 
über die zeichnerische Faktur Hinausweisende, Tran- 
sitorische, gehört wesentlich in den Bereich seines Darstellungskonzepts. «In der vollendeten Zeichnung
	        
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