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Jahresbericht 1914 der Zürcher Kunstgesellchaft
G
bauschigen Mantel auf nächtlicher Fahrt bei fahlem Mondlicht. In den aus England her-
übergekommenen Zeichnungen fand sich aber nichts von Dantescher Verzweiflung, Shake-
speareschem Geister- und Hexenspuk, von blutiger Nibelungentreue und Ossianischem
Schildklang. Es waren vier zum Teil unscheinbar kleine aquarellierte Zeichnungen,
«Weibliche Figur vom Rücken», «Weibliche Gestalt im Fenster», «Weiblicher Kopf» und
«Medusa», auch dieses letzte Blatt das Bild einer sehr lebensfroh und menschlich blickenden
jugendlichen Zeitgenossin des Künstlers; dabei von einer Eindringlichkeit der Stimmung
und einer bewussten Besonderheit in jeder Einzelheit, die sofort gefangen nahm. Es gab
also noch einen andern Füssli als den der michelangelesken Kraftmenschen. Auf alle
Fälle wusste sich die Königliche Nationalgalerie nach der Ausstellung für die Erwerbung
von Füsslischen Zeichnungen in England Quellen zu erschliessen und sie auszunutzen.
Durch ihre Vermittlung fand in der Folge eine kleine Sendung ihren Weg auch nach
Zürich. Als Geschenk einer Gönnerin gelangten sechs Blätter in die Sammlung der Zürcher
Kunstgesellschaft; andere blieben in Zürcher Privatbesitz. Es waren durchweg Zeich-
nungen von kleinem und mittlerem Umfang und wenig anspruchsvoller Haltung, be-
scheidene Vorboten. Sie wurden um so dankbarer aufgenommen, da sie wirklich eine
ganz andere Sprache führten als die Versuche aus den fünfziger Jahren und auf die
bisher völlig unbekannte Kunst des «englischen» Füssli ein erstes Streiflicht warfen.
Eine ganz andere Fülle bot bald darauf, im März 1914, die Auktion bei E. G. Boerner
in Leipzig. Wenn einmal, so zeigte sich jetzt die Möglichkeit den ganzen Füssli kennen
zu lernen und allzu fühlbare Lücken in Sammlungsbeständen mit raschem Zugreifen
verschwinden zu machen. Die Sammlung im Zürcher Kunsthaus dankt es dem unbedenk-
lichen, wirksamen Eintreten einer Reihe von alten und neuen Freunden, wenn es ihr
gelang, die Gelegenheit in einer Weise zu nutzen, die über ein blosses Ausfüllen von
Lücken weit hinaus führte. Unangebracht war ihre Mithülfe nicht. Mit dem ersten Hervor-
treten hatte Füssli auch seinen Platz auf dem Kunstmarkt gefunden, und in Leipzig
bemühten sich um ihn nicht nur schweizerische Museen und Privatsammler, sondern auch
Händler aus Paris, Berlin, Dresden, und einige grössere deutsche Sammlungen, so dass
oft recht lebhaft geboten und gesteigert wurde. Anderseits kam auch vor, dass etwa ein
Käufer, dessen Bekanntschaft mit dem Künstler erst vom Tage selbst datierte, wenn das
Fieber der Auktion verflogen war, noch einmal unsicher wurde und dies und jenes aus
seiner Mappe zu mässigem Preise an entschlossenere Füssli-Freunde weiterzugeben
suchte. Beim ersten Zusammentreffen musste es dem Unvorbereiteten dem Reichtum
und der Mannigfaltigkeit gegenüber, in der Füssli hier erschien, freilich schwer fallen,
zu einigermassen klarem Eindruck und Urteil zu gelangen. Vollständig ausgeführte Ge-
mälde in Aquarell, lavierte Zeichnungen mit scharfen Umrissen und lebhaften Kontrasten
von Hell und Dunkel wie zur Reproduktion für den Stecher vorbereitet, weiche Pinsel-
zeichnungen in Tusche, mit Himbeerot oder lichtem Blau da und dort ein wenig gehöht,
Entwürfe in Kreide, Feder und Bleistift, vereinigten sich in Darstellungen aus allen
Zeitaltern und Regionen des Romantischen; oft von so gewaltsam erzwungenem Ausdruck,
dass man sich abwandte, um im nächsten Augenblick doch wieder zurückzukehren.
Sammelmappen bargen neben Werken dieser Art Bünde Iluftig und rasch hingewischter
Einfälle, in Bleistift sorgfältig gestrichelte Mädchenfiguren, Ideen zu Gemälden, bis zu
Anatomieskizzen, wo die widerstrebende Feder mit breiten Strichen in den Sehnen und
Muskeln eines krampfig gespannten Rückens oder Brustkorbes wühlt.