der Frottage im Durchreiben von Gegenständen ent-
standenen Strukturen in Max Ernsts Phantasie unge
wohnte Bilder entstehen, die er nachträglich durch
bewusste Ergänzungen verdeutlichte. Die vorgefun-
denen Texturen versetzten ihn in die Lage, seinen
«Jungfräulichkeitskomplex>» gegenüber dem leeren
Blatt zu überwinden und seine meditativen und hal-
luzinatorischen Fähigkeiten zu steigern. In Andre
Thomkins graphischem Werk lassen sich mancher-
lei Beziehungen zum Surrealismus aufzeigen. 1956
überarbeitet er Zeitungsbilder, er <kitzelt» sie mit der
Feder und deutet so ihren Inhalt um. Er verwendet
in demselben Jahr Strichelich6&s in ganz ähnlicher
Weise wie Max Ernst und macht 1961 «Knülldrucke»
von um eine Kleberolle herumgeknautschtem Pa-
pier, die eine ähnliche Wirkung haben wie die von
Max Ernst mit geknülltem Papier im Vernis-mou-
Verfahren hergestellten Blätter für «Une semaine de
bonte&> von 1934, Auch die «Scharniere» in dem
Bändchen «OH, CET ECHO) von 1963, in denen er
eine Art von Rorschach-Bild mit einem Lackfaden
erzielt, nehmen surrealistische Techniken auf. «Zu
jener Zeit habe ich mit meinen Materialdrucken vie-
les verfolgt, was die Surrealisten postuliert, aber
nicht unbedingt realisiert haben: einen unbewuss-
ten, letztlich wirklich nicht kontrollierbaren, nur
intuitiv lenkbaren Ausdruck für Dinge zu finden, die
an die Oberfläche gehoben werden können.» 6
Betrachten wir noch einmal Thomkins’ Rapport-
muster, die auch heute noch für ihn eine Voraus-
setzung dafür bilden, Dinge <an die Oberfläche» zu
heben, so wird deutlich, dass seinem Spiel inner-
halb des Gesetzes Grenzen gesetzt sind. Die ent-
standenen Figuren bleiben an den Raster gebunden,
sie können sich nicht frei bewegen, sondern müssen
sich mit ihren Körperpositionen nach dem System
richten. Ihre Arm- und Beinhaltungen sind merk-
würdig verrenkt, ihre Rücken oft gebogen, wenn sie
sich an eine vorgegebene Kurve anzulehnen haben,
und die Grössenverhältnisse innerhalb einer Szene
sind sehr unterschiedlich. Das gibt dem Künstler
jedoch auch die Möglichkeit, aus den traditionellen
Vorstellungen der «richtigen» Proportionen und des
akademisch «schönen» Menschenbildes auszubre-
chen und neue, unverbrauchte Bewegungsrhythmer
zu finden. Bereits an den Manieristen bewundert
Thomkins, dass sie die Körper in solche Positionen
gebracht haben, dass sie aufregend sind. Obwohl
er sich den alten Meistern verbunden weiss, kann
er als Künstler unserer Zeit solche aufregenden
Positionen nicht mehr dırekt darstellen, sondern nur
noch indirekt, gebrochen und rekonstruiert nach
«Passage eines Siebes, eines Musters>. Das Gebun-
densein führt jedoch zu neuer schöpferischer Frei-
heit. Aus den Bedingungen der Unterwerfung unter
das Gesetz ergeben sich Möglichkeiten neuen Ge-
staltens. Sein Ziel ist es, «in den Gesetzeszwängen
eines Musters ein Spiel zu entfalten, das vielfältig
genug ist, zwischen wendigem Wandel und Still-
stand eine paradoxe „Lebendige Haltung” zu fin-
den)». 7
Das gleiche gilt für das Raumgefüge, das durch das
Überschneiden von Elementen und das Übergreifen
von Figuren über mehrere Strukturfelder hinweg
entsteht. Der Raum ist durch den konstruktiven
Raster gebrochen, befreit sich aber gerade dadurch
von dem einheitlichen Perspektivraum überkomme-
ner Prägung. Es gibt keine einheitliche zusammen-
fassende Sicht mehr, keine Komposition, in der alle
Bildteile auf ein Geschehen hin konzipiert sind. Das
Ganze ist nur noch in Brüchen sichtbar. Mir scheint,
Thomkins’ Blätter demonstrieren in beispielhafter
Weise unsere heutige Unfähigkeit, unsere Welt als
gesellschaftliches Gesamtbild darstellen zu können.
Dazu befragt, meint Thomkins, dass das stimme; er
stelle sich jedoch vor, dass das Ganze doch da sei,
auch wenn man es nicht organisieren könne. Das
verbindende Element bei allen Brüchen sei das
Strukturnetz. Das Netz ist die Voraussetzung für die
Entstehung der Figuren, es ist «ihre Herkunft, ihr
Schicksal. 8
Ursula Perucchi-Petri
Gl