Volltext: Jahresbericht 1987 (1987)

tier gewordene Katze trägt Alma Mahlers Gesichtszüge. 
Sie hat den Kopf zum toten Kind oder zum Hasen zurück- 
gewendet, der unmittelbar über ihrem Gesäss plaziert ist; 
zum Hasen, der ein altes Fruchtbarkeits-Symbol ist und der 
von Kokoschka bewusst als Paraphrase des berühmten 
Aquarells Dürers, das in der Wiener Albertina aufbewahrt 
wird, gestaltet worden ist.!* Auch die Motive des Hinter- 
grundes fügen sich aus dem autobiographischen Element 
zusammen. In der zweiten Hälfte des Jahres 1913 hat das 
Liebespaar eine Reise nach Neapel unternommen, wo es in 
einem roten Haus wohnte. Ist es vermessen, beim einzigen 
Stern des nachtschwarzen Himmels an den Stern von Beth- 
lehem zu denken? Auffällig am rechten Bildrand ein 
stehender Mann in einem Boot, Charon? Kokoschka 
selbst, der sich abwendet? Auch wenn sich der zunächst 
enigmatische Inhalt, in Kenntnis des biographischen 
Hintergrundes, präzise entschlüsseln lässt, eignet ihm zwei- 
fellos, wie den vorangegangenen Stilleben, eine über das 
Persönliche hinausgehende Aussage an, indem sich die 
Dramatik des unmittelbaren Geschehens auf die expressive 
Pinselschrift und die beinahe haluzinatorische, flackernde 
Lichtführung überträgt. Das Bild wird so zur Parabel 
drohenden Unheils und verkörpert wie kaum ein Werk in 
dieser Zeit die von Untergangsvisionen geschüttelte Zeit 
der letzten Monate vor Ausbruch des ersten Weltkrieges. 
Die visionäre Kraft des Künstlers, insbesondere sein Senso- 
num gegenüber drohendem Unheil, verbindet dieses Werk 
mit dem wenig später entstandenen Bild «Der irrende 
Reiter», das neben seiner Dimension als vorweggenom- 
menes Kriegsbild auch die abschliessende bildnerische 
Auseinandersetzung um Alma Mahler beinhaltet, sodass 
von einem, zwar nicht in formalem Sinne jedoch inhaltlich 
bestimmten Triptychon «Windsbraut», «Stilleben mit 
Putto und Kaninchen» und «Der irrende Reiter» 
gesprochen werden kann. 
Wiederholt ist von der unruhigen Lichtführung gespro- 
chen worden. Wie Blitzlichter leuchten grelle Partien aus 
dem dunklen Hintergrund auf, die einzelnen Figuren oft 
beinahe auflösend. Nachweislich hat der Künstler diese 
dynamisierte Lichtführung von Tizian übernommen. 
Auch diesbezüglich geben Kokoschkas Lebenserinne- 
rungen wertvollen Aufschluss. Wenn Kokoschka darin 
seine Empfindungen angesichts von Tizians Bild «Venus 
mit dem Orgelspieler» beschreibt, das durch Zufall für 
kurze Zeit in seinem Atelier versteckt gehalten wurde, dann 
ist man versucht, aus dieser Beschreibung genau das heraus- 
zuspüren, was den heutigen Betrachter auch angesichts des 
«Stillebens mit Putto und Kaninchen» fesselt. Er selbst 
schreibtl6: 
«Ein Erlebnis ganz anderer Natur war es, als eines Tages Carl 
Moll, einige Monate vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges, aus 
Italien ein Tizian-Gemälde brachte und es bei mir im Atelier 
abstellte. Das Bild musste vor der Öffentlichkeit geheimgehalten 
werden. Es hatte einem Prinzen von Orleans der italienischen 
Linte gehört und war heimlich über die Grenze gebracht worden. 
Es stellt die Venus mit dem Orgelspieler dar und ist nach dem 
Kriege vom Katser-Friedrich-Museum in Berlin erworben 
worden, wo es noch heute ein Prunkstück der Sammlung ist. Das 
Bild stammt aus der mittleren Schaffensperiode Tizians, als er 
begonnen hatte, an Stelle der klassischen Zeichnung und des kräf- 
tigen Kolorits der Renaissance neue Mittel zu suchen, um die 
Luminosität des Raums zu gestalten — eine Anstrengung, welche 
in der Pieta der Accademia in Venedig, vielleicht seinem letzten 
Werk, kulmintert, wo das Licht den Raum aus der bisher statisch, 
perspektivisch gesehenen Auffassung des Raumes der Renais- 
sance dynamisch um- und neu formt, so dass die Figuren selbst 
sıch zu bewegen scheinen. 
Das umberschweifende Auge des Betrachters wird nicht wie 
bisher von dem Ablesen eines Konturs und einer Lokalfarbe, 
sondern von der Leuchtkraft im Bilde geleitet. Es ist dies eine 
Schöpfung, die in der Malerei zum erstenmal das gleiche Wunder 
wie einst die archaisch-ionische Skulptur bewirkt hat. Dort wird 
der Raum in kleinste Facetten aufgelöst. Das Licht berührt nicht 
nur die Oberfläche, sondern bewegt sie. Damit war ein für alle- 
mal der ägyptische Bann überwunden. Licht, und nicht allein die 
kubische Masse, das Volumen, bedingte die räumliche Kompo- 
$ILO0N. 
Tizian war nach seinem Tode lange vergessen worden, und erst 
Poussin, der immerhin Augen halte, zu sehen, lernte von Tizian, 
den er intensiv studiert hatte, dass, anders als in der Zeichnung 
und im Lokalkolorit der Renaissance, in dessen Werk ein 
Geheimnis steckte, das allen anderen Malern fremd war: die
	        
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