kurzem im Schlafzimmer von Giovanni und Annetta über
dem Bett. Der geschnitzte Rahmen war Teil der von Gio-
vanni selbst entworfenen Inneneinrichtung, die Motive
der heimischen Fassadenornamentik aufnahm. Nach
dem Tode ihres Gatten (1933) bezog Annetta ein Neben-
zimmer, das elterliche Schlafzimmer diente fortan Alberto
— dem ältesten Sohn! — als Unterkunft während seinen
alljährlichen Aufenthalten in Stampa.
Indem Giovanni das schwarze Kleid sowie die dunklen
Haare der Mutter mit dem Bildgrund verschmelzen lässt,
lenkt er das Augenmerk des Betrachters in erster Linie
auf die beiden Gesichter sowie die kräftigen Hände der
Mutter, die durch scharfes Seitenlicht modelliert werden;
als zusätzliche Akzente bestimmen das weisse Hemd des
Säuglings sowie eine rot-grüne Decke die Bildkomposi-
tion. Diese vergleichsweise sparsame Verwendung von
Bildelementen verleiht dem Gemälde den Charakter von
familiärer Intimität einerseits, dank der streng gefügten
Dreieckskomposition die übergeordnete Bedeutung einer
Mutter-Kind-Gruppe andrerseits; die Erinnerung an die
Gottesmutter mit dem Jesusknaben drängt sich zwar nicht
auf, schwingt aber mit.
In gewisser Hinsicht ist Albertos Bild der Mutter gar
nicht so fern von Giovannis Einsatz der Bildmittel. Auch
hier die Konzentration auf den Kopf, das farbliche
Verschmelzen von Körper und knapp differenziertem
Hintergrund. Es geht allerdings nicht an, die Parallelen
allzusehr zu strapazieren, vielmehr ist zu betonen, dass
das 1958 entstandene Bildnis ein besonders charakte-
ristisches Beispiel von Albertos spätem Malstil ist, und
darüberhinaus wohl eines seiner eindrücklichsten Por-
traits.
Es gehört zu den Merkmalen dieses Spätstils, dass sich
die formale Durchdringung auf den Kopf konzentriert,
dass die Bildfläche bewusst skizzenhaft belassen wird; in
der Regel wird diese mit breitem Pinsel hingeworfen und
längs der Ränder rahmenartig eingegrenzt, um der Kompo-
sition den nötigen Halt zu verleihen. Jedes Detail ordnet
sich dem Hauptmotiv unter; die malerische Konzentra-
tion bewirkt in Albertos letzten Schaffensjahren häufig,
dass durch die dichte Pinselschrift die Köpfe zu plastischer
Ausstrahlung gesteigert werden: Die Arbeit mit dem Pinsel
gleicht sich dem Modellieren mit dem Messer an.
In dieser Hinsicht nimmt das Portrait der Mutter eine
Sonderstellung ein. Bei aller Intensität der formalen
Durchbildung des Gesichts und insbesondere des Blickes
eignet dieser Darstellung etwas Erscheinungshaftes an.
Man ist versucht zu sagen: diese Figur ist nicht mehr von
dieser Welt. Ist die Mutter dargestellt oder die Vision der
Mutter? Möglich, dass solche Überhöhung sich nur vis-
ä-vis der Mutter einstellen konnte, möglich auch, dass
die Abgrenzungen gegenüber den meisten Bildern, die
nach 1956 entstanden sind, durch die Tatsache zu er-
klären ist, dass dieses Werk in Stampa und nicht wie
die meisten späteren Bilder in Paris gemalt wurde.
Jedenfalls reflektiert der beherrschende warme Braunton
die Atmosphäre des Elternhauses, in dem Holz als Aus-
stattungselement dominiert; die in Paris entstandenen
Gemälde werden durchwegs von Grautönen bestimmt.
Der dritten Evokation von Annetta Giacometti, die
im Berichtsjahr die Alberto-Giacometti-Stiftung als Ge-
schenk von Herrn und Frau Bruno und Odette Giaco-
metti, entgegennehmen durfte, eignet der Charakter des
Aussenseiterischen in Albertos Schaffen. Es handelt sich
um ein in weissen Marmor gehauenes Flachrelief, den
Kopf der Mutter frontal wiedergebend, auch wenn die
Schultern leicht nach rechts abgedreht sind. Die Ent-
stehungszeit ist nicht gesichert; die Verwendung des un-
üblichen Werkstoffes sowie die Wahl der halbplastischen
Form eines Flachreliefs, die singulär in Albertos gesam-
tem Schaffen ist, erschweren zunächst eine plausible
Datierung.
1920 weilte Alberto erstmals in Italien; in Begleitung
seines Vaters, der in offizieller Mission für die Biennale
in Venedig tätig war, verbrachte der damals 19jährige ent-
scheidende Wochen in Venedig, tief beeindruckt von
Tintoretto, später von Giotto, als auf der Heimreise die
Arena-Kapelle in Padua aufgesucht wurde. Im Herbst des-
selben Jahres zog es ihn erneut nach Italien. Über Flo-
tenz, wo er vergeblich einen Platz in einer Kunstschule
zu finden hoffte, reiste er nach Rom, wo er für einige
Monate im Hause von Verwandten Unterkunft fand.
Das Marmorrelief scheint ohne die italienische Erfah-
rung, ohne die Kenntnis des in der Renaissance entwickel-
ten illusionistischen Flachreliefs kaum denkbar — im
Segenteil: im weiteren Sinne des Wortes hat gerade die-