Volltext: Jahresbericht 1993 (1993)

das betonte Herausarbeiten des Gesichtes als frontale 
Fläche mitverantwortlich gewesen sein, doch auch dieser 
Aspekt wirkt als ganz gezielt eingesetzter künstlerischer 
Ausdruckswert. Das monumentale Haupt, dem weder das 
eher Konventionelle wenig später entstandener Portrait- 
köpfe noch das gesucht Experimentelle anderer derartiger 
Arbeiten eignet, deutet auf eine sehr bewusste, gezielt 
repräsentative Darstellung seiner Persönlichkeit. 
Trotz der offensichtlichen Bedeutung der Skulpturist sie 
relativ unbekannt geblieben. Im Gegensatz zu den meisten 
frühen Werken Giacomettis hat sie nämlich schon früh sein 
Atelier verlassen: 1927 schenkte er sie — wohl im Rahmen 
eines Austausches — einem Künstlerfreund: Hans Stocker. 
Sie hatten sich bereits 1919 in Genf kennengelernt, nach 
dessen Übersiedlung nach Paris 1925 intensivierte sich der 
Kontakt. Er gehörte zu den grossen Erneuern der schweize- 
rischen Glasmalerei; besonders bekannt sind seine 
Arbeiten für Karl Mosers Antoniuskirche in Basel. Dass 
sein Schaffen bisher in der breiten Sammlung Schweizer 
Malerei der Zwischenkriegszeit im Kunsthaus nicht ver- 
treten war — wie übrigens auch dasjenige seines nicht 
minder begabten Bruders Coghuf —, muss als bedauerliche 
Lücke bezeichnet werden, die nun dank eines grosszügigen 
Geschenkes der Kinder des Künstlers aufs Sinnvollste 
geschlossen wurde. Denn 1930 machte dieser das Selbst- 
bildnis Albertos zum Gegenstand eines Skulpturen-Still- 
lebens —eine seltene, sowohl vom Vater wie vom Sohn Gia- 
cometti gepflegte Gattung. Die Umsetzung ist meisterhaft; 
wie in der Körperhaftigkeit der Malsubstanz die materielle 
Dichte der Skulptur erfasst, wie in der Zeichnung der ste- 
reometrische Aufbau analysiert wird, zeugt von tiefem Ver- 
ständnis und gibt dem mehr an Malerei als an Plastik 
gewöhnten Betrachter eine Anleitung, wie er das Werk 
wahrzunehmen hat. 
Wenn wir uns nun der näheren Analyse des Selbstbild- 
nis-Kopfes zuwenden, brauchen wir nur die anderen 
Werke, die in der Giacometti-Stiftung um ihn versammelt 
sind, vergleichend zu betrachten, um seine Bedeutung zu 
erfassen. Zunächst hängt da das vier Jahre früher entstan- 
dene, ähnlich gewichtige gemalte Selbstportrait; das 
jugendlich schlankere Gesicht des Zwanzigjährigen gleicht 
noch stärker ägyptischen Köpfen — ein Zug, der auch 
Stocker stark herausgearbeitet hat. Vor allem aber fällt auf, 
mit welcher Strenge und Stringenz Giacometti in beiden 
Werken die Gesetzmässigkeiten des jeweiligen Mediums 
zur Geltung bringt. Der exakten, orthogonalen Einfügung 
des Malers in das Rechteck der Bildfläche entspricht die 
ebenso konsequente Komposition des Kopfes aus den drei 
plastisch sehr klar artikulierten und gegeneinander 
gesetzten Elementen des Halses, des Gesichtes und der 
Haarkalotte. In beiden Fällen erreicht Alberto die elemen- 
tare Form durch die Aneignung archaischer Vorbilder: im 
Gemälde dient ihm das frühgriechische Knielaufschema 
dazu, das vor allem durch die Medusa vom Giebel des Arte- 
mis-Tempel in Korfu bekannt wurde. Bei der Skulptur 
mögen die drei Linien bei den Ohren auf die Locken- 
strähnen der Kuroi aus der gleichen Epoche verweisen, 
doch wie es einem reiferen Werk entspricht, ist die Bezie- 
hung zu den Vorbildern hier weniger direkt, in einer noch 
zu bestimmenden Weise künstlerisch stärker umgesetzt. 
Sowohl im Bild und noch markanter in der Plastik erzielt 
Giacometti durch - geringfügige, sehr präzise Abwei- 
chungen vom selbst gesetzten «Gesetz» jene lebensvolle 
Spannung, in der sich der Meister am klarsten zu erkennen 
gibt. So kann das Selbstbildnis von 1921 in einem ähnlichen 
Sinne wie der Kopf von 1925 als Meisterstück betrachtet 
werden. Löste sich mit diesem der Bildhauergeselle von 
Bourdelle, so mit jenem der Malerlehrling von seinem 
Vater —beiden zeigte er damit, dass er ausgelernt hatte, was 
es für ihn bei ihnen zu lernen gab. Und bei beiden knüpfte 
er dazu nicht an ihre letzten, während seiner Lehrzeit ent- 
standenen Werke an, sondern an frühere, die ihm bedeu- 
tender erschienen: bei Giovanni an die kühnen Konstruk- 
tionen aus Farbflächen aus der Zeit des grossen Familien- 
bildes Die Lampe, bei Bourdelle an den streng durchgestal- 
:eten, grossformigen Kopf Apolls von 1900, mit dem sich 
dieser selbst von dem Impressionismus seines Lehrers 
Rodin gelöst und den er wenig später mit einem erstaunli- 
chen, kubistoiden Sockel versehen hatte. 
Die nächsten Arbeiten Giacomettis in der Stiftung sind 
die bereits erwähnten Studien aus der Akademiezeit, von 
denen hier besonders die Selbstbildnis-Zeichnungen inter- 
essieren. Diese machen einen reiferen Eindruck als die 
Akte; die eine treibt deren Facettierungen bis in jenes 
kleinteilige Extrem, das an die späteren Erzählungen von 
der Unmöelichkeit, von einer Einzelheit zur nächsten,
	        
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