Volltext: Jahresbericht 1995 (1995)

dern sich unverwischbar in das Gedächtnis einprägt und 
immer ganz unerwartet bis zur letzten Einzelheit vor den 
Augen schwebt. Das alles war mir unklar, und ich konnte 
die einfachen Konsequenzen dieses Erlebnisses nicht zie- 
hen. Was mir aber vollkommen klar war — das war die 
ungeahnte, früher mir verborgene Kraft der Palette, die 
über alle meine Träume hinausging. Die Malerei bekam 
eine märchenhafte Kraft und Pracht. Unbewusst war aber 
auch der Gegenstand als unvermeidliches Element des 
Bildes diskreditiert. Im ganzen hatte ich den Eindruck, 
dass ein kleines Teilchen meines Märchen-Moskau doch 
auf der Leinwand schon existierte.»* 
Wenige Seiten zuvor beschreibt Kandinsky in seinem 
[913 verfassten «Rückblick» dieses «Märchen-Moskau>» als 
Kindheitserinnerung an die in allen Farben aufleuchtende 
Stadt in der Stunde des Sonnenunterganges. Es ist wohl 
mehr als Zufall, dass sich auch Monet in den folgenden 
grossen Serien vor allem Stadtmotiven zuwandte: der Ka- 
thedrale von Rouen,* London und schliesslich Venedig. In 
anderen Folgen rückt er geometrische Strukturen in den 
Vordergrund: die bildparallele Reihe der Pappeln oder die 
japanische Brücke. Und in den zahlreichen Bildern der sin- 
kenden Sonne hinter dem Parlamentsgebäude oder San 
Giorgio Maggiore sucht er unerhörte, märchenhafte Farb- 
klänge. Formal macht sich hier wohl ein doppeltes, gegen- 
läufiges Bedürfnis geltend: die klaren, orthogonalen Ele- 
mente verleihen dem Bildgefüge Halt, betonen die 
Bildfläche und lassen in ihrem Widerstand zugleich die 
Energie der malerischen Auflösung der Dinge aufscheinen. 
[nhaltlich zeigt sich eine Affinität zum zeitgleichen Sym- 
bolismus, seiner Vorliebe für das mittelalterlich Gotische, 
das Artifizielle und die Dämmerung; auch Monet verlangt 
jetzt von einem Bild, dass es ein «mystere» enthalte. Die 
frühen, meist hymnischen Kritiken sind vom sinnlich pre- 
ziösen Sprachgebrauch der Symbolisten durchtränkt. 
Monet selbst blieb allerdings bei seinem alten natura- 
listischen Standpunkt: er wolle möglichst genau wieder- 
geben, was er sehe. Im Begriff «sensation», den Baudelai- 
re ins Zentrum der Kunst rückte, vereinigen sich die 
beiden Perspektiven; er bezeichnet diesen fliessenden 
Schwellenbereich zwischen sinnlicher Wahrnehmung 
und visionärer Phantasie. Während die spätzeitlich nostal- 
gische Decadence diesen letzteren Aspekt im Träumeri- 
schen der Abenddämmerung suchte, findet der andere im 
Auftauchen des Sichtbaren aus dem Dunst der Morgen- 
dämmerung seinen Inbegriff: ursprüngliches Sehen in der 
von keinem Vorwissen konditionierten und getrübten 
Unmittelbarkeit des ersten Blickes des geheilten Blinden.“ 
Der Ausgangspunkt für die Neuorientierung oder - besser 
- Intensivierung der Kunst Monets 1890 geht nach seinen 
Aussagen auf ein Erlebnis und einen Gedanken von 1879 
am Ende des eigentlich impressionistischen Jahrzehnts 
zurück. Die Beobachtung, wie die ersten Sonnenstrahlen 
die Kirche von Vetheuil langsam aus dem dichten Nebel 
ins Sichtbare hoben, brachte ihn auf die Idee, die Verän- 
derung der Atmosphäre, des Lichtes im Lauf des Tages 
ınd der Jahreszeiten in verschiedenen Zuständen des glei- 
chen Motivs aufzuzeigen. Nachdem er in den achtziger 
Jahren auf zahlreichen Reisen dramatische Landschafts- 
perspektiven festgehalten hatte — die zerklüfteten Küsten 
der sturmgepeitschten Nordsee, blendend helle Gebirgs- 
ketten an der Cöte d’Azur, die düstere Schlucht der Creu- 
se —, kehrte er nun zu den schlichten ländlichen Motiven 
um sein neu erworbenes Anwesen in Giverny zurück und 
begann mit den Heuhaufen sein Konzept in die Tat umzu- 
setzen. Schon früher hatte er öfters mehrere Bilder mit 
dem gleichen Motiv gemalt, doch nun systematisierte er 
das Prinzip, indem er die momentane Stimmung viel 
enger und präziser fasste und so die Anzahl der Versionen 
vervielfachte. Anschliessend verdichtete er die verschie- 
denen, vor dem Motiv rasch skizzierten «Impressionen» 
in langem Atelierstudium zu intensiv durchgearbeiteten 
Bildern und stimmte diese zugleich zu einer spannungs- 
reichen und harmonischen Serie von Variationen ab.* 
Die vier Gemälde, die sich im Kunsthaus zusammen- 
gefunden haben, gehören vier verschiedenen Serien an: 
der Heuhaufen der ersten, der Palazzo Ducale zu den letz- 
ten, 1908 skizzierten und bis 1912 ausgearbeiteten Moti- 
ven aus Venedig, die beiden übrigen Gemälde zu den drei 
ımfangreichsten und künstlerisch wohl konsequentesten 
Serien, die in den drei Winter 1899 bis 1901 in London 
begonnen und bis 1904 vollendet wurden.“ Monet prä- 
sentierte jede Folge in einer speziellen Ausstellung, um 
die Spannweite der «effets» - sowohl der atmosphärischen 
wie der künstlerischen - zu vergegenwärtigen. Obwohl 
unsere Bilder verschiedene Motive zeigen, sind sie SO
	        
Waiting...

Nutzerhinweis

Sehr geehrte Benutzerin, sehr geehrter Benutzer,

aufgrund der aktuellen Entwicklungen in der Webtechnologie, die im Goobi viewer verwendet wird, unterstützt die Software den von Ihnen verwendeten Browser nicht mehr.

Bitte benutzen Sie einen der folgenden Browser, um diese Seite korrekt darstellen zu können.

Vielen Dank für Ihr Verständnis.