Volltext: Jahresbericht 2001 (2001)

HINWEISE AUF 
EINIGE NEUERWERBUNGEN 
VALLOTTON DU CÔTÉ DE CHEZ GABRIELLE 
Die reine Ausprägung des Phänomens, das Werk, in 
dem der Problemkreis einer ganzen Kategorie von 
Werken unüberbietbar gestaltet und vor Augen geste llt 
wird, das ist es, was man sich für eine M useumss amm- 
lung w ünscht und nur selt en erlan gt. Dass das K unst- 
haus heute ein solche s Werk sogar geschen kt e rhält, 
müsste man gar als ein Wunder bezeichnen, wäre nun 
der Mann, dem wir es verdanken, nicht ein beson ders 
feinsinniger und weit gebildeter Kunsthistoriker ge- 
wesen: Hans Naef, in dessen kaum je von P rofan en 
betretenen Studiolo das Bild die Entstehung des viel- 
bändigen, grundlegenden Kat aloges der P orträt zei ch- 
nungen von Jean Dominique Ingres begleitete. Und 
dies war in doppelter Hinsicht sinnvoll: Einerseits 
erinnert das Gemälde in auffälli ge r Weise an jenes köst- 
liche Interieur von Jean Alaux, in dem M adame Ingres 
durch die offe ne Flügeltür des Ateliers zu ihrem Mann 
mit der Geige schaut, hinter dem ein weiterer Arbeits- 
raum sichtbar wird, andererseits zeichneten sich die 
weitläufigen Studien unseres P rivatgelehrten durch die 
Eindringlichkeit aus, mit der er in die Lebensumstände 
der von Ingres porträtierten Personen und ihres enge- 
ren und weiteren Umkreises eindrang. 
Das Intérieur avec femme en rouge de dos (Abb. 3) 
wäre das gegebene Frontispiz für eine Geschichte des 
Innenraumbildes. Wie die anderen, nach ihrem d arge- 
stellt en In halt bestimmten Gattungen der geg enstän d- 
li chen Malerei – Bildnis, Genre, Stillleben, Landschaft 
– löst sich das Interieur durch Isolierung oder Heraus- 
hebung eines T eilaspekts aus der von van Eyck und 
Alberti begründeten re alisti schen T radition: die Bild- 
fl äche als Ausblick oder Einblick in einen als wirklich 
erscheinenden Raum. Bereits diese grundlegende 
Disposition, die in den mei sten Bildern als Selbstver- 
ständlichkeit vo rausgesetz t und so unsichtbar bleibt , 
wird von V allot ton durch das rahmen füllen de Motiv 
der sich öffnenden Türe reflektiert. In moderner Weise 
wird wie bei den fr ühesten Darste llung en von Innen- 
räumen, etwa bei Giotto und noch in der Kirchen - 
madonna van Eycks oder den T afeln von Konrad Witz, 
deren Aussenseite in der Bildebene gezeigt und gegen 
den Betrachter geöffnet. Schon in dem frühe n Haupt- 
werk La malade von 1892 evozi ert V allott on auf sub- 
tile Weise die vierte, zugun sten der Einsicht weggelas- 
sene Wand des Zimmers. Nun moduliert er durch die 
S tellu ng der Türflüg el den spezifischen Zugang oder 
Ausschluss des Betrachters: Sie ermög liche n den Ein- 
bli ck, aber sie weisen zugleich wie nach aussen gedrehte 
S tache ln einer Reuse oder Falle ab und run den zugle ich 
den Innenraum nach vorn ab. 
Wenn nun das Eigentliche eines Interieurgemäldes 
darin besteh t, dass es als H auptg egen stand einen 
Innenraum in seinem spez ifi schen Charakt er zei gt, so 
bietet unser Bild in seiner Staffelung von vier Zimmern 
eine ziemlich einmalige Übererfüllung di eser Forde- 
rung. Dur chblic ke in einen weiteren Bereich sind 
häu fig; kontrastierend oder steigernd mache n sie das 
Besondere des Hauptraums, normalerweise des vor- 
deren, erst richtig deutlich. Schon weit seltener folge n 
sich drei Zimmer, berühmt etwa das Gemälde des 
Emanuel de Witte in Rotterdam, auf dessen Boden die 
A bfolge von Sonne und Schatten eine erstaunliche 
Tiefe evoziert. Vielleicht eine direkte Anregung für 
V allotton könnte das hochformatige, mit knappen 
Ausschnitten arbeitende T rompe-l’œil von Samuel van 
Hoogstraten im Louvre gew esen sein; auch dort liegt 
das Hauptgewicht auf dem hintersten, hellste n Raum, 
an dessen Rückwand überdies ein Interieur von Ter- 
borch mit einer Rückenansicht einer Dame vor einem 
Bett zu sehen ist. 
Wird nun das Innere des Interieurs in ein noch 
relativ Äusseres, ein Inneres, ein noch Innereres und 72
	        
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