Volltext: Jahresbericht 2001 (2001)

s chli esslich das Allerinnerste aus- oder besser eingefal- 
tet, wird die Bewegung des Eindringens in diese Inner- 
lichkeit fast wichtiger als diese selbst, wäre nicht das 
Schlafzi mmer als Ziel di eser Bewegung eine in sich 
gerundete, ruhen de Einheit, bildbestimmend, obwohl 
sie kaum zehn Prozent der Bildfläche einnimmt. Die 
drei vorderen Zimmer bleiben weitgehend unsi chtbar , 
Dur chgän ge, und ihr I nhalt auf die Logik der virtuel- 
len Bewegung des Betrachters ausgerichtet. Die An- 
ordnung der Türflügel und die Perspektive weisen ihm 
eine Position parallel zur Dame im V orrau m zu. Der 
wie schwebend lei cht einschwingende und sich gegen 
hin ten wieder öffnende Teppich bil det den Auftakt der 
Bewegung, die über die Stufen nach oben führt und 
re chts von den aufsteigenden Rockfalten begleitet 
wird. Effe ktvo ller ist die breitere linke Seite entwickelt, 
in der sich in dreifacher V erdichtung der Klang weisser 
Wäs che auf altr osa Stoffen vom Sofa über einen Stuhl 
bis zum Bett steigert. Di eser Weg entfaltet sich weni- 
ger durch Tiefenlinien als durch die unt erschi edli che 
atmosphäri sche Gestaltu ng der Räume. Das Lic ht, das 
abwechselnd von re chts und von links einfällt, wird 
immer heller , prägnanter und wärme r bis zu dem in 
Sonnenschein getau chten Schlafzimmer mit seiner 
gelb und roten Tapete, auf der die schwarzweissen 
Holzschnitte zugleich den stärksten Helldunkel- 
Kontrast markieren. So entsteht gegenläufig zur Tie- 
fen flucht ein kräftiger optischer I mpuls nach vorn, und 
dieses Pulsieren wird durch die ambivalente Aufhän- 
gung der bei den Draperien am mittleren Durchgang 
unt erstüt zt: Die Oberkante der vorderen fällt mit dem 
Sturz der Eingangstüre, die hintere mit der Rückwand 
gegen das Schlafzimmer zusammen, so dass ein merk- 
würdiger «short cut» entsteht. Unser Interieur evozi ert 
so nicht nur einen Raum, sondern eine Suite, das 
Appartement, den Lebensraum von M adame. 
Damit kommen wir von unser er Besichtigung zu 
den gattungsgeschichtlichen Bestimmungen zurück. 
Im System der Gattungen der realistischen Malerei hat 
der Innenraum weitgehend einen supplementären 
Charakter: Er bietet häu fig Rahmen und Hintergrund 
für Historie und Genre, Porträt oder S tillleben. Diese 
Gattungen dominieren die R aumangaben und können 
auch ohne spezifische Hintergründe auftreten, wäh- 
rend «reine» Interieurs ohne Figuren sehr selten sind. 
V ereinzelte Beispiele entstehen in Holland im 17. Jahr- 
hun dert und im Biedermeier . Seit dem Klassizismus, 
zu Lebzeiten Ingres’, sind sorgfältige, meist in Aquarell 
oder Go uache aus ge führte Aufnahmen bestimmter 
Räume beli ebt, Zimmerporträts gewissermassen, zur 
Dokumentation, Erinnerung, Mitteilung an ferne 
Angehörige. Entwickeln sich daraus Gemälde, fehlt 
kaum je der Bewohner , der sich diese Umwelt zurecht- 
gemacht hat und sich in ihr spiegelt. Oft sind es die 
Künstler selbst und ihre Angehörigen, und di eser Tra- 
dition ist auch das vorliegende Bild verpflichtet, denn 
es zeigt Madame V allotton in dem frisch bezogenen 
eleganten Hôtel parti culi er in der Nähe des Bois de 
Boulogne. Ihr Gesic ht ist abgewandt – und so blei bt 
das P orträt im Interieur «aufg ehoben ». 
Normalerweise ist das Interieur mit dem Genre ver- 
bunden: Die Übergänge sind fliessend, und es ist oft 
beli ebig, ob man diesen oder jenen Aspe kt zur Gat- 
tungsbestimmung wählt . Das Interieur kommt als sol- 
ches nur zur Geltu ng, wo die äussere Hand lung ganz 
hinter das Stimmungshafte des Zuständlichen zurüc k- 
tritt. Bezeichnenderweise dominieren die D arstellu n- 
gen des studierenden Kirchenvaters Hieronymus «im 
Gehäus» die Früh- oder V orgeschichte der Gattung, die 
sich erst mit der Entwicklung des bürg erli chen Genres 
in Hollands «Goldenem Zeitalter» etabliert. Das 
Innere des Hauses ist der Bereich der Frau, ihre ruhig e 
Tätigkeit für das Hauswesen das Genr et hema, das dem 
Interieur entspricht, seine Aufwertung nahe legt. Diese 
niederländische Tradition bild et auch bei V allot ton 
noch die Grun dlage bis in das Gleichgewicht von ab- 
bildender Treue und k ünstle risch stimmungshafter 
Umsetzung. Der gege nstän dli che I nhalt freilich, die 
vie len T extilien, die geschwun ge nen Beine der M öbel, 
das Lo uis-XVI-Bett im Fluchtpunkt evozieren als wei- 
tere Kulturschicht das fran zösische Dixhuitième mit 
dem erotischen Fluidum der Boudoirs von Bouche r 
und seiner N achfolge r: Das Gemälde resümiert die 
Geschi chte der Gattun g. Doch haftet ihm ni chts 
Historisierendes an, vielme hr dominiert in Malerei 
und Stimmung eine individuelle Interpretation oder 73
	        
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