Volltext: Jahresbericht 2001 (2001)

W eiterentwicklung des helltonigen Realismus des spä- 
ten 19. Jahrhunderts, wie er in der Schweiz am besten 
vom frühe n Hodler und den ersten Werken V allottons 
vertreten wird. Um 1900 erlebt die Interieurmalerei 
auf dessen Basis im Zeichen des leben sre former ischen 
Jugendstils eine letz te Blüt e, vom Skandinavier Carl 
Larsson bis zum Wiener Carl Moll: Das einerseits vom 
Wust des Fin de siè cle zu reinigende, andererseits zu 
schmück end e Heim bie tet den z ei tgen össischen Kon- 
text. 
Man sieht, V allotton geht hier sehr reflektiert, 
k ünstle risch sehr bewusst vor. Das W eiterarbeiten an 
einer Gattungsgeschichte, an einer Gattungsnorm im 
Sinne eines Idealtypus, in dem die dem Phän omen 
eigenen Charakt eri stik a mögli chst rein ausgepr ägt 
werden, entspricht dem V orge hen tr adit io nsbewusster , 
sich an einer Klas sik orientierender Kün stler . Aber 
auch V allotton hatte seine modernistische Phase. Ver- 
gle icht man das Gemälde mit den kaum vier Jahre zu- 
vor entstandenen Interieurs, z.B. mit La visite im 
Kunsthaus, zeigt sich eine völlig andere Haltung. In 
den 18 90er Jahren dominierten in seinem Œuvre die 
Holzschnitte, die entsprechend der auf die primären 
flächi gen Kunstmittel ausgerichteten Ästhet ik der 
Nabis ganz auf Schwarzweiss-Kontrasten beruhten. In 
der berühmtesten Serie, den Intimités von 1898, gibt 
V allot ton eben so knappe wie prägnante P aarsi tuati o- 
nen, in denen er die innere Hohlheit der damaligen 
Ehebeziehungen anprangert. Daran knüpfen die 
anschliessend gemalte n Interieurs an; das Bild wird in 
einheitliche F arbflächen ohne die geringste atmosphä- 
rische Differenzierung zerlegt; in den knappen 
Ausschnitten der sei chten Raumbühnen sind alle 
Feinheiten der Ausstattung unterdrückt, so dass die 
Unwohnlichkeit der zwanziger Jahre vorwe gge- 
n ommen erscheint. 
Merkwürdigerweise heiratete V allotton, der sich bis 
dahin in Paris gesellschaft s k rit isch gab, im selben Jahr 
1899 Gabrielle Rodrigues-Henriques, eine junge 
Witwe aus der mondänen Kunsthändlerfamilie Bern- 
heim. Aus einfachen V e rhältn issen bewegte er sich da- 
durch in die gehobene Gesellschaft; von der schli chten 
Schneiderin Hélè ne Chatenay , der er seit zehn Jahr en 
locker verbunden war, löste er sich. Glaubwürdiger als 
die Bri efe an die Elt ern und den B ruder in Lausann e 
bezeugen der innere Glei chk lang der um 1890 ge mal- 
ten Szenen mit Hélè ne und die nun Gabri elle in ele- 
ganten Interieurs zeigenden Bilder, dass es sich um 
echte Liebe hande lte, die freilich auf die Dauer das 
Missbehagen an den gesellschaftli che n V erpflichtun- 
gen und den Eitelkeiten Gabri elles nicht zu kompen- 
sieren vermoc hte. In dem monumentalen, vor kurzem 
vom Gen fer Museum erworbenen Bild La hain e, in 
dem sich M adame und Monsieur, beide völli g nac kt, 
gegenseitig ihre V erachtung bezeugen, gestalt ete Val- 
lotton 1908 diese Spannungen auf ziemlich einmalige 
und erstaunliche Weise. Etliche der von 1899 bis 1904 
g emalten Bilder hingegen, in denen seine Gattin mehr 
oder weniger prominent erscheint, gehör en zu den 
künstlerisch und inhaltlich att rakt ivsten Werken seines 
Œuvr es. Als das Ehe paar 1903 aus dem Appartement 
an der Rue de Milan in der Nähe der Opéra in eine 
standesgemässe Villa mit Garte n beim Bois de Bou- 
logne umz og, hielt V allott on in einer ganzen Serie von 
Gemälden die sorgfältig ausgestatt en Räume fest. Der 
Durchblick zum Schlafzimmer ist das grösste und 
komplexeste; ein weiteres zeigt den Blick zur ück vom 
Kopfende des Bet tes, wobei im Spiegel eines grossen 
Kleiderschrankes nun der ganze Rahme n mit den 
Holzschnitten über dem Bett zu sehen ist: vermut lich 
drei Drucke aus der Serie der M usiki nst r umente, die 
mit ihrer Evokation der verzaubernden Macht der 
Musik dem Ort ebenso angemessen sind wie den 
Gemälden. In dem Spiegel ist Gabri elle von vorne zu 
sehe n, und zwischen dem Spiegelbild und ihrer 
Rückenansicht sitzt eine nähende Hausangestellte. 
Vielleicht erinnerte sich V allotton an das helle, 
schli chte Bild von 1891 mit der nähenden Hélèn e, 
deren feines Profil sich in einem kleinen Spiegel über 
einem einfachen T oilettentisch abgezeichnet hatte . 
Christi an Klemm 
Wir möchten auch an dieser Stelle Marina Ducre y , die für die Fondation 
Félix Vallotton den Catalogue raisonné vorbereitet, für ihre grosszügige 
Hilfe bei der Bearbeitung der Gemälde Vallottons danken. Man wird 
dort bald die näheren Angabe n zu den erwähnten Bildern f inden. 74
	        
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