Volltext: Jahresbericht 2001 (2001)

der Ortsnennung auf eine allgemei ne re Beziehung 
oder Abhängigkeit, die Mat isse gerad e in jener Zeit 
seiner k urzlebi gen Akademie besonders bewusst gewe- 
sen sein d ürfte: das von der Ecole de Barbizon zu alle i- 
niger Geltun g gebrach te Prinzip, einen Natureindruck 
ganz aus der individuellen Gesti mmthei t heraus zu 
gestalten: un coin de la nat ure, vu par un tempérament. 
Mit dem Titel Barbizon erinnert Matisse also an eine 
T radition, der er sich verp flic htet fühlt. Die Mittel 
aber, die er in der Ausführung di eser Motive – des Bild- 
mot ivs und der A uffassung des künstlerischen Tuns 
überhau pt – einsetzt, sind ger adezu gegenteilig: Farbe 
statt Helldunkel, Fläc he statt Tiefe, flüssige Leichtig- 
keit statt pastoser Schwere. Sarah Stein, die Gatti n des 
Sammlers Leo und Schwägerin Gertrude Steins, 
notierte, was Mat isse im Unterricht empfahl. Seine Be- 
merkungen zur Lan dschaft können mit unserem Bild 
trefflich i llustri ert werden und lass en uns umgekehrt 
dessen Entstehung nacherleben: Man solle das Motiv 
lange betrachten, dann die Augen schliessen und sich 
das Bild vorstelle n – diese charakteristischen Züge und 
die Einheit des Gemäldes sollen stets präsent bleiben. 
Ausgangspunkt auf der weissen Leinwand ist ein farb- 
li cher Grundakkord, auf den die Natur reduziert wird, 
drei oder vier F arbfleck en , aus denen sich die Gesamt- 
harmonie entwickelt. Hier könnte Matisse von dem 
helle n Gelbgrün oben und dem Blau des W assers unten 
ausgegan gen sein; die gedämpfteren Blaugrün vermi t- 
teln seitlich; über den gegabelt en bläulic hen Stamm 
stei gt wie in Blasen reines Blau nach oben. Als viert e 
Basisfarbe hält im Mittelpunkt ein purpurnes Rot, ein- 
gefasst von den G rund farben Gelb und Blau, die in den 
anderen Tönen abgewan de lt werden, die Komposition 
in Gleichgewicht und Spannung. Wie bei dem be- 
rühmt en «roten Fleck», der spätestens seit Corot in 
jeder Lan dschaft als Kontrapunkt zu dem viele n Grün 
obli gator isch ist, erscheinen hier die reinsten und in- 
tensivsten F arben in geringer Ausdehnung: Quantität 
und Intensität werden ausbalanc iert . Um den ge- 
wünschten F arbk lang zu erreichen, übermalt M atisse 
grosse Partien, so die untere Hälft e der roten F läche in 
der Mitte oder die braun en Partien lin ks. Umgekehrt 
lässt er an man chen Stellen die Leinwand unbedeckt, 
und hier sehen wir lang gezogene Linien, die die 
Komposition als ein Gefü ge von farbigen Flächen 
vorbereiten. 
All dies verun klärt den Ausgangspunkt in der Natur. 
Matisse geht es nicht mehr um das Abbilden einer äus- 
seren Wirklichkeit, auch nicht um das Erfassen einer 
spe zi fischen atmosphär ischen Stimmung, wie dies 
noch die Impressionisten beabsichtigen, vi elmehr 
sucht er nach einem Ausdruck des Gefü hls als sinnli- 
che Anmutung, das ihn angesichts des Motivs erfüllt . 
Um diese «sensation» mitzuteilen, im Betrachter zu 
wecken, bedarf es nicht der Details, der gegenständ- 
lichen Erkennbarkeit, sondern des farbli chen und 
r hythmi schen Gesamtklangs, des bildlichen Äqui va- 
lents für das ganzheitlich Empfundene. «Barbizon» 
mag so auch ein Hinweis auf die stark e Durchdringung 
der Natur mit Gefühlslage n sein, wie sie Rousseau oder 
Millet in ganz anderer Weise pflegten. 
Die Reinheit, Frische und Leichtigkeit der impres- 
sionistischen Palette in der neoimpressionistischen 
Steigerung Signacs war seit der Jahrhundertwende 
grundlegend für Matisse: Das g rosse Stilleben von 
1899 im Ku nsthaus kann man als e rstes Manifest da- 
für lesen. Gleichzeitig malte er dasselbe Motiv in 
kleineren V ersionen auch in gedämpften Tönen und in 
g rossen bunten Flächen: M atisse experimentierte stets 
in verschiedenen Richtungen. Weitere P aramete r sind 
der Grad der plastischen Präsenz der Objekte, die 
Dichte der F arbmater ie , die Behandlung der Umrisse 
der Formen: Gerade im V ergle ich von Barbizon mit 
der unwesentlich früheren und in vi elem ähnlichen 
M argot, die bereits 1925 ins K unsthaus kam, lassen 
sich die verschiedenen V erfahr en und ihre Ausdrucks- 
werte erkennen. 1905, dem Jahr, in dem die F auves um 
Matisse und De rain im Salon Furore machen und ih- 
ren Namen erhalten, erreicht die Freiheit der Wieder- 
gabe und die Le uchtk raft der reinen F arben, au fgelöst 
in ein vibrierendes Feld leuchtender Partikel, ihren 
Höhepunkt. Doch die Reaktion folgt auf dem Fuss: In 
der Paradiesvision Le bon heur de vivre werden die 
Farben in grossen Fläc hen und einem System von 
Linienschwüngen zusammengefasst. Die Einwirkung 
von Gauguin, jugendstilartig ornamentalisiert, ist ma- 76
	        
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