Tritt man vor ein Bild, k onfr ontiert uns der Maler durch
seine Gestaltung mit ganz u nters c hiedlichen, aber
stets bes timmten Erwartungen oder Ansprüchen. Aus
mittelalterlichen Kunstwerken s trahlt uns oft ein mär-
chenhafte r Zauber entgegen, der uns in meditative
Sphären entrüc kt. Das als Blick aus dem Fenster kon-
zipierte Renaissance-Gemälde führt uns in einen fikti-
ven Raum, in dem wir weite Landschaften und unver-
rückbar dem Schauen sich darbietende Gegenstände
entdecken. Bald regen sich hier körpermächtige
Gestalten, die uns durch Empathie ihre ausdrucks-
starken Taten und Leiden mitfühl en lassen. Die psychi-
schen Wirkungen des dargestellten Inhalts und der
gestaltenden Formen verbinden sich unauflöslich, bis
im 20. Jahrhundert das abbildungshaft Gegens tändli-
che verschwindet und eine Kunst in Erscheinung tr itt,
die durch reine Formen die allem inhaltlich Be stimm-
ten vorausliegende Verhältnisse des Seins , der Bezie-
hung des Me nschen zur Welt, die Strö me der Lebens-
energie sichtbar machen will.
Die erste Phase dies er Bildauffa s sung war von der
tief greifenden l eben sr ef ormerischen, vitalis tischen
Str ömung um 1900 getragen und fand ihren voll ende-
ten Ausdruck in der Kunst Kandinskys und Mondrians.
Um 1950 radikal i s ierten New Yorker Künstler in gross-
formatigen Werken diese Position: Die Konfrontation
des Subjekts mit der weiten Fläche wird als existen-
zielle Hera usf or derung aufgefasst. Pollock hat dies in
se inen wie in Trance durch ges tische Körperbewegun-
gen auf die Leinwa nd entäusserten psychischen Span-
nungen vorgelebt; Barnett Newman demons trierte mit
se inen immens en Farbflächen die Überwäl t igung des
Betrachte rs – bezeichnend der Bildtitel «Who is Afraid
of Red, Yellow and Blue» – und lie ferte in s einen Schr if-
ten die theo r etische Begründung im Rückgriff auf die
alte Theorie des Sublimen oder Erhabenen, die bereits
Füssli in den Mittelpunkt seiner Kunst auffas sung
gerückt hatte. Ihre Werke und die ihrer Kollegen Mark
Rothko, Cliffor d Still und Franz Kline bildeten in ihrer
küns tl erischen Intensität den Aus gangspunkt, mit
dem sich die folgenden Maler a use inander setzen
mussten: in entschiedener Hinwendung zur Rea lität
wie in der Pop Art oder zu el ementaren formalen Mit-
teln unter Ablehnung der e xist enzialis tischen Empha-
se in der Minimal Art. Bes onders fas zinier en heute die
Künstler, die den hohen Anspruch der älteren Genera -
tion mit den neueren Ansätzen zu verbinden wussten,
wie Robert Ryman mit se inen systematischen U nter-
suchungen aller Aspekte des «Gemäldes» und der
weite menschliche Dimensionen umfassende Cy
Twombly.
Hier ist nun das neu in die Samm lung gek ommene
Gemälde von Lee Ufan anzuschliessen, das sich in die-
se Tradition einfüg t und ihr zugleich durch den Hinter-
grund s einer ostasiatischen Geistigkeit einen neuen
Horizont eröffnet. Ande rs als in der westlichen Fixie-
rung auf das a nal ytische Vorgehen und das subjektive
Bewusstsein wird hier die synthetische E inheit des
Ichs mit dem Kosmo s gesucht. Als zentral en Begrif f
seiner Kunst bezeichnet Lee Ufan das Begegnen; der
Ort dies es Aus t ausches zwischen der Natur und dem
Maler und ihm folge nd dem Betrachter ist die Lein-
wand. Nicht von ungefähr schätzt er unter den westli-
chen Denk ern vor allem Merl eau-P onty, der in s einer
Phänomenologie die Vermittlung des Bewusstseins
und der Umwelt durch den menschlichen Körper und
seinen F unktionen betont. So könnte man leicht Bezie-
hungen zu den Künstlern finden, die diesen bes onders
interessierten, wie Cézanne und dessen Suche nach
der möglichs t unmittelba r en Wiedergabe der Se hein-
drücke oder Alberto Giacometti und sein Bemühe n,
die lebendige Präs enz des Gegenübers festzuhalten.
Für diese ist ebens o wie für Lee Ufan das Kunstwerk
der Ort, wo sich das Sehen des Menschen und das
«Sehe n der Welt», wie er sich ausdrückt, begegnen
LEE UFAN « WITH WINDS » 77