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die Kaste, nicht auf das Volk sich stützen kann.“ Hat
man das Ziel verstanden 1 Der Kaiser soll in Zukunft
nicht mehr „lieber Jude“, sondern „mein liebster Jude“
sagen.
Der Weg der Sitte.
Ein innerpolitisches Buch zu schreiben, das Popu
larität erlangt und doch nach' oben nicht verstößt, son
dern sogar karessiert, ist heute selbst in Deutschland
kein Kinderspiel mehr. Die Aufgabe kann nur gelöst
werlden auf dem „Wege der Sitte“, das heißt der Mysti
fikation. Indem man die dralle Kokotte Germania am
Reformationsbusen kitzelt. Mit Seele, Glauben, Ge
wissen, Verantwortung; mit Vokabeln aus der Bibel
sprache, Transzendenz, Freiheit, handfestem Anti
feminismus und einem wohl arrangierten, undurchsich
tigen, anonym intellektualiisierten Stil, aus dem der
Durdhsohnittspastor nur die lutheranische Phrase,
gewissermaßen das Evangelium herauszuhören braucht,
um begeistert zu sein. Herr Rathenau präsentiert sich
indessen nicht nur in der Geste des Reformators, er
präsentiert sich in allen Rollen, die der preußischen
Tradition teuer sind. In der Rolle des Cato Censorius,
der den Luxus beschneidet; in der Rolle des Frei
herrn von und zum Stein, der den gleichen „Volks-
staat“ erstrebte, den Rathenau zu erstreben vorgibt;
in der Rolle des Salvator Borussiae. Der Weg der
Sitte führt Herrn Rathenau in summa zu einer Art
protestantisch-feudaler civitas dei, und ich frage den
großen deutsehen Schriftsteller und Katholiken Franz
Blei, was er heute wohl zu diesem Herrn Rathenau
sagt, dessen „ehernen Stil“ er vor Zeiten bewunderte,
den man heute aber getrost einen der größten Schau
spieler des Protestantismus uüd theologischen Buffo
nennen darf. Der Weg der Sitte und die „Geschäfts
kunst“, wie Rathenau die Politik nennt, führt ihn
darüber hinaus zu dem Bekenntnis: „Mit Recht ist
unserem Empfinden die Bewegung der großen franzö
sischen Revolution fremd“, und auch dies Bekenntnis
gegen Enthusiasmus, Liebe und Verbrüderung er
schließt die neudeutsche Seele. „Rüstung bedeutet