Die Kulisse.
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einen Totenkopf mit mir herum, den ich in einer alten Kapelle
gefunden. Man hatte Gräber umgeschaufelt und dabei hundert
jährige Skelette bloßgelegt. Auf die Schädeldecke schrieb man
die Namen der Verstorbenen und den Geburtsort dazu. Die
Backenknochen wurden mit Rosen und Vergißmeinnicht bemalt.
Das Caput mortuum, das ich so jahrelang mit mir führte, war der
Kopf eines mit 22 Jahren anno 1811 verstorbenen Mädchens.
Ich War in die 133 jährige recht vernarrt und konnte mich schwer
von ihr trennen. Schließlich aber, als ich in die Schweiz fuhr,
habe ich sie doch in Berlin zurückgelassen. An jenen Totenkopf
erinnert mich hier der noch lebende. Wenn ich das Mädchen
ansehe, möchte ich Farben nehmen und ihr verzehrtes Gesicht
mit Blumen ausmalen.
*
Das Leben pulsiert hier frischer und ungebundener, weil man
Reine Hemmungen kennt. Aber welch ein Leben ist es. Der Aber
glaube, daß im niederen Volk, und gar in dem einer großen
Stadt, die Unberührtheit und die Moral zu finden seien, ist eine
arge Täuschung. Hier erliegt man den schlechtesten Einflüssen
des bürgerlichen Prestiges, ist abhängig vom eindrucksvollsten
Rekord, den die Zeitungen preisen, und hingegeben jedem ver
jährten Vergnügen, das als ein Abfall von oben kommt. Über
den Charakter und die Moral der Gesellschaft von heute ist viel
geschrieben worden. Wenn aber Menschen nicht einmal diesen
Charakter und diese Moral besitzen und doch ihrer Suggestion
erliegen, dann ist das recht trostlos.
*
Man soll sich hüten, Zeit und Gesellschaft bei ihrem wirk- 13. X.
liehen Namen zu nennen. Man soll hindurchgehen wie durch
einen bösen Traum; ohne nach rechts oder links zu blicken, mit
zusammengepreßten Lippen und starren Augen. Man soll sich
Ball, Die Flucht aus der Zeit. 4