Volltext: Jahresbericht 1979 (1979)

nere Präsenz und Ausstrahlung, die das spätere, 
dem Monumentalen zuneigende Schaffen vorberei- 
tet. Eine zarte Scheu kennzeichnet zwar noch die 
verhalten aufblühende Mädchengestalt; die in sich 
vollendete Körperlichkeit jedoch strahlt in den 
Raum aus und beherrscht ihn. Dieses Schlüssel- 
werk der früheren Schaffensperiode Aeschbachers 
ist somit gekennzeichnet durch zwei sich scheinbar 
widersprechende Eigenschaften: auf der einen Seite 
in sich ruhende Geschlossenheit, zarte Oberflä- 
chenmodellierung und auf der andern Seite raum- 
beherrschende, schwellende Körperlichkeit. Das 
Werk ist einer Knospe vergleichbar, die eben im 
Begriff ist, sich zur Blüte zu entfalten. Durch die 
Wendung des Kopfes ist diese Figur —- wie alle spä: 
teren auch —- nicht auf eine Ansicht festgelegt; um 
sie als plastische Form erfahren zu können, muss 
sie von allen Seiten her betrachtet werden, nur so 
gibt sie den weichen Fluss der stets wechselnden 
Konturen preis. 
Nur ein Jahr später ist der «Weibliche Torso» 
(Abb. 5) entstanden: die Knospe hat sich zur 
prachtentfaltenden vollen Blüte entwickelt. Die 
mächtig schwellenden, voluminösen weiblichen 
Formen verleihen dem Werk irdene Schwere, ur- 
sprüngliche Kraft beherrscht die Masse des Steines. 
der zum Sinnbild von Gäa, Venus und lebensspen- 
dender Magna Mater wird. Nicht zufällig handelt es 
sich um einen Torso. Noch konsequenter als bei 
einer Ganzfigur wird durch das Weglassen von Kopf 
und Armen das Gesamtvolumen gestrafft. Trotz der 
prallen Formen entbehrt dieser Torso nicht einer ge- 
wissen, aufragenden Eleganz; dadurch, dass die 
Beine eng aneinander gepresst sind, verlagert sich 
der Schwerpunkt der Figur auf die Höhe der weit 
ausladenden Hüftpartie. Aeschbacher, der in seinen 
Skulpturen jedes anekdotische Detail vermeidet, ge- 
stattet sich hier ein leicht ironisierendes Detail, 
indem er die beiden grossen Zehen der Füsse über- 
einanderlegt. Dadurch vermeidet er eine allzu 
strenge Axialsymmetrie und nimmt dem gewaltigen 
Frauenkörper lastende Schwere. Zugunsten der 
reinen Form entfernt sich der Künstler vom Natur- 
vorbild und bringt die einzelnen Körperpartien mit- 
einander in ein das ganze Werk umfassendes Be- 
zugsschema. So entsprechen die zarten Wölbungen 
der beiden Knie den vollplastisch herausragenden 
Brüsten, und dem zarten Schwung der Unterschen- 
kel antworten die beinahe geometrisierend empfun- 
denen Kurven der Beckenpartie. So rein wie in die- 
sem Werk hat Aeschbacher die weiblichen Formen 
sonst nie zu einem in sich vollendeten Kräftespiel 
zusammengefügt. 
1947 verlegt Aeschbacher seinen Werkplatz in die 
Provence, wo er bis 1965 arbeitet. Die mediterrane 
Jmgebung verstärkt zunächst die sinnliche Aus- 
strahlung seiner Steine, die zunehmend abstrakte- 
ren Formen folgen, ohne dabei ihre Sinngebung als 
weibliche Idole aufzugeben. Die Beziehung zum 
Stein intensiviert sich dergestalt, dass die Hand des 
Künstlers noch verhaltener in das Material eingreift: 
der kaum bearbeitete Findling wird zum Symbol 
dieser Phase intensivster Verschmelzung von Künst- 
‚er und Werkstoff. Bereits das Gesicht «Abstraktion» 
von 1945 weist in dieser Richtung, vollends deutlich 
wird sie bei den gegen 1950 entstehenden Lava- 
figuren, von denen die 1948 datierte «Figur (Abb. 6) 
ain charakteristisches Beispiel ist. Das zunehmende 
Zurücknehmen der dem Naturvorbild folgenden For- 
men ist hier so weit entwickelt, dass die sinnbild- 
hafte Ausstrahlung allein durch eine rhythmisierte 
Folge von schwellenden Partien erreicht wird, die 
ainer dynamischen, sich aufbäumenden Kurve 
untergeordnet sind. Noch stärker als zuvor wecken 
dieses und verwandte Werke die Erinnerung an 
frühzeitliche Mahnmale, Kristallisationspunkte 
heiliger Haine, naturhaften Gottheiten geweiht. «Der 
Begriff des Kultbildes bietet sich an. Idole und 
Stelen sind Kultbilder im herkömmlichen Sinne 
durch ihr reines Dasein, das Distanz fordert und 
den Raum auf sich bezieht, zeitgenössische Skulp- 
turen aber durch ihren asymmetrischen und nicht- 
frontalen Aufbau sowie durch den Tastwert der 
Oberfläche des Steines;>, schreibt Harald Szeemann 
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