Volltext: Jahresbericht 1993 (1993)

moralischer aber erscheint die Perfektionierung von wenigem 
Erlesenen, das die Notwendigkeit des Gewöhnlichen ästhe- 
tisch transzendiert und die materiellen Mittel des Besitzers 
seinem Geschmack und damit seiner geistigen Beherr- 
schung unterwirft. Diese wohl weniger auf einer asketi- 
schen als auf einer humanistischen und im exakten Sinne 
epikuräischen Basis beruhenden Haltung, die sich zugleich 
besser in den Rahmen bürgerlicher Tradition und Menta- 
lität fügt, findet sich wiederum im Biedermeier und in der 
Reaktion des strengen Wiener Jugendstils auf die erdrük- 
kende Überfülle der viktorianischen materiellen Kultur 
und die ausufernden Umschlingungen des florealen 
Jugendstils. Vom Bauhaus systematisiert, ist sie bis heute, 
wenn auch banalisiert, weithin massgeblich geblieben. 
Vor der hellen Wand, die rein und leer dem Erscheinen 
des Lichtes dient, auf der faltenlosen Decke des Tisches, der 
geometrisch präzis die Bildfläche teilt und die Raumtiefe 
definiert, stehen oder liegen die sechs Gegenstände, auch 
sie von geometrischen Grundformen bestimmt. Es sind 
Dinge des Gebrauchs, weder ausgefallen in ihrer Gestalt 
noch durch aufwendigen Dekor ausgezeichnet; vielmehr 
wahren sie die Schlichtheit des Ursprungs ihrer Art. Was die 
essentialistische Richtung der Postmoderne, etwa Aldo 
Rossi, bewusst auf die Spitze treibt, scheint hier bereits 
angestrebt: die Verbindung von reiner Form und spre- 
chender Ausprägung des Typus. Die spezifischen Quali- 
täten liegen in der Sicherheit der Proportionen, der Voll- 
kommenheit der Ausführung, allenfalls in den edleren 
Materialien. Für diesen Stilwillen ist die Wahl eines Römers 
mit einem konischen statt dem üblicheren bauchigen 
Oberteil charakteristisch: es ist die strengere und zugleich 
die ursprünglicher anmutende Form, dem mittelalterli- 
chen «Krautstrunk» noch näher; sie erfüllt das übergrosse 
Format des Trinkgefässes mit innerer Monumentalität. 
Die Kunstmittel diktieren, so viel dürfte durch die bishe- 
rige Beschreibung klar geworden sein, den Bildinhalt: eine 
stille kopernikanische Wende, der Überordnung des Den- 
kens und der Methode über die Gegenstände bei Descartes 
vergleichbar, der 1637 und damit vielleicht im gleichen 
Jahr, in dem unser Stilleben in Haarlem entstand, im 
unfernen Leyden seinen «Discours de la methode» ver- 
öffentlichte. Nichts lässt sich so leicht und vollständig auf 
seine ästhetische Wertigkeit reduzieren wie solche bereits 
bewusst geformte alltägliche Geräte; der Verwendungs- 
zweck prägt zwar ihre Form mit, doch er bleibt nur eine von 
Zeit zu Zeit aktualisierte Latenz, während sie in ihrer Gestalt 
stets ganz da sind. Dass der Becher waagrecht nicht Gefäss 
sein kann, dass das Messer nichts zu schneiden hat, dass die 
Halsuhr umgekehrt auf dem Speiseteller liegt, hebt ihre 
profane Funktion selbst in der ästhetischen Entrücktheit 
der Bildfiktion nochmals auf und macht vollends deutlich, 
dass ihre raison d’&tre von künstlerischen Gesetzen be- 
stimmt wird, 
In Licht und Farbe, Form und Raum lassen sich hier die 
Kunstmittel gliedern. Die Raumbühne besteht zunächst 
aus der leeren Wand; ihre Tiefe ist vorerst unbestimmt und 
bleibt es auch, wenn wir nicht annehmen, dass die Rück- 
kante des Tisches an sie stösst. Ebenso wäre ihre Richtung 
undefiniert, könnte sich der Maler nicht darauf verlassen, 
dass das Auge des Betrachters automatisch die einfachste 
[nterpretation wählt. Denn diese Fläche tendiert wie jede 
andere dazu, mit ihrem Träger, hier also mit der Bildebene, 
zusammenzufallen; jede Differenz muss mit illusionisti- 
schen Mitteln erst erzeugt werden. Stellt man sich den 
Tisch abgeräumt vor, dürfte die Energie dieser lebensprak- 
tisch normalen Sehweise sogar so gross sein, dass die ein- 
zige diagonale und damit tendenziell tiefenräumliche 
Kante das Möbel nicht davor bewahren würde, primär als 
ein dunkler Streifen mit einem grünlichen Trapez darüber 
wahrgenommen zu werden: die Sorge der Modernen, die 
dekorative Einheit der Bildfläche durch eine illusionisti- 
sche Tiefe zu verlieren, scheint so schon von vornherein 
gebannt. Der Römer setzt dem waagrechten Tisch einen 
kraftvollen senkrechten Akzent entgegen; die Schrägen 
seines Oberteiles antworten der diagonalen Tischkante 
und entwerten ihren Tiefenzug. 
Raumtiefe und Komposition werden hier vor allem 
durch Form und Anordnung der Gegenstände bestimmt. 
Durch ihre Strenge und Verknappung lassen sich ihre 
Beziehungen wie bei Morandi als unterschiedliche modell- 
hafte Situationen lesen. Als funktional gleichartig ver- 
binden sich die beiden Trinkgefässe; als stehend und lie- 
gend, als voll und leer, als durchsichtig und opak sind sie 
gegeneinander gesetzt. Demgegenüber sind die beiden 
Teller formal gleich, doch diese Gleichheit wird zur Diffe- 
renzierung der Wahrnehmung eingesetzt: der vordere kragt
	        
Waiting...

Nutzerhinweis

Sehr geehrte Benutzerin, sehr geehrter Benutzer,

aufgrund der aktuellen Entwicklungen in der Webtechnologie, die im Goobi viewer verwendet wird, unterstützt die Software den von Ihnen verwendeten Browser nicht mehr.

Bitte benutzen Sie einen der folgenden Browser, um diese Seite korrekt darstellen zu können.

Vielen Dank für Ihr Verständnis.