HINWEISE AUF
EINIGE NEUERWERBUNGEN
DIE WIEDERVEREINIGUNG
VON OCHS UND ESEL
Auch wenn der Begriff «Religion» nicht von dem lateini-
schen «ligere» - «binden» - abzustammen scheint, hat sie
offensichtlich viel damit zu tun: der Mensch steht immer
in Beziehungen zu anderen Menschen, ist eingebunden
in die Folge der Generationen und sucht - suchte ? — die
Ausrichtung auf ein höheres, über den Alltag hinaus Ver-
bindliches. Museen sind an sich Zeugnisse solchen Stre-
vens, solcher geistiger und seelischer Bedürfnisse, und
zumal das Kunsthaus ist voller Modelle, wie sich solche
Bindungen konstituieren, aber auch wie sie sich lösen:
Tradition, Revolution, Reformation — Überliefern, Zu-
rückdrehen, Wiederformen — umreissen dieses Span-
nungsfeld.
Überlegungen über solche im Weiten wie im Nahen
wichtige Entwicklungen drängen sich angesichts der bei-
den Flügel eines Altares mit der Geburt Christi auf. 1925
vermachte August Abegg dem Kunsthaus die Aussenseite
des linken Flügels, auf dem neben Maria und Joseph die
ainteren Teile von Ochs und Esel zu sehen sind;:! 1930
erwarb Frau E. Escher-Abegg, dessen Schwester, auf An-
regung von Wilhelm Wartmann die andere Hälfte von der
Berner Familie von Steiger und stellte sie dem Kunsthaus
zur Verfügung.? Nun haben sich die Nachkommen ihrer
Tochter Frau Emma Haab-Escher, die im Oktober 1992
verstarb, dazu entschlossen, zu ihrer Erinnerung dem
Kunsthaus auch diesen rechten Flügel mit dem Christ-
kind und den Vorderteilen von Ochs und Esel zu schen-
ken und so die beiden zusammengehörigen Hälften auf
Dauer wieder zu einem Ganzen zu vereinen. Geschaffen
wurde es einst wohl als bedeutungsvoller Mittelpunkt
einer Seitenkapelle, in der eine Familie, vielleicht auch
eine Bruderschaft, auf den Gräbern ihrer Vorfahren für
das Seelenheil der Mitglieder dieser die Generationen
überdauernden geistlichen Gemeinschaft betete und sich
in der Messe der Gegenwart Gottes versicherte.
Doch gerade die Intensität derartiger Bindungen, ihre
Kumulierung von Generation zu Generation, ihre Ver-
äusserlichung durch die Häufung trug zum Bildersturm
der Reformation bei, die eine neue, eine wiederhergestellte
ursprüngliche Unmittelbarkeit und Spiritualität anstrebte.
Das Schicksal der äusseren Zeichen der Frömmigkeit
blieb dem Zufall überlassen, soweit sie nicht zu Brenn-
holz für die Armen verarbeitet wurden. Was mit dem Mit-
telstück unseres Altars, wohl einem Schrein mit der
Madonna und Heiligenfiguren, geschah, wissen wir nicht;
die Flügel jedenfalls gaben zwei praktische Schranktüren
ab: die Spuren des grossen Schlosses sind noch gut zu
sehen. Als das Möbel verschlissen war, wurden die Gemäl-
de aus ihrer Fron, der sie ihre Erhaltung verdankten,
erlöst; wohl bei einer Erbteilung gerieten die beiden Hälf-
ten auseinander. Nachdem die Romantiker um 1800 in
den ehemals liturgischen Gegenständen die Kunst als den
die Zeiten überdauernden Wert entdeckt hatten, müssen
sie einem Kunst- oder besser Altwarenhändler in die
Hände gefallen sein. Während vom rechten Flügel unten
etwa acht Zentimeter abgeschnitten wurden, spaltete man
beim anderen die Aussen- von der Innenseite: so erhielt
man zwei Bilder, die sich bequem nebeneinander hängen
und einzeln verkaufen liessen. Die Heiligen Hieronymus
und Sebastian, die den Heiligen Barbara und Katharina ent-
sprachen, gerieten über den New Yorker Handel nach Ber-
lin, wo sie bei der russischen Plünderung 1945 zerstört
wurden.? Die Maria, ihres Kindes beraubt, erschien nun
ungünstig exzentrisch: nachdem die Tafel schon vor der
Spaltung oben um knapp acht Zentimeter verkürzt wurde,
sägt man nun auch links achtzehn Zentimeter ab. Auf
dem jetzt fehlenden Viertel wird nur weiteres Gemäuer
oder wie auf dem Gegenstück ein Landschaftsausblick zu
sehen gewesen sein; jedenfalls lassen sich hier kaum wei-
tere Figuren vorstellen.
Wohl der einzige spätgotische Altar der reformierten
Schweiz, der heute noch — oder besser: wieder — in dem