Volltext: Jahresbericht 1997 (1997)

von Kunstobjekten, sondern besitzt eine deiktische, 
hinweisende Funktion. Sie «begnügt» sich mit dem 
unaufdringlichen Hinweisen auf etwas, das schon da 
ist, dessen Existenz ohne dieses Hinweisen aber nicht 
wahrgenommen worden wäre. 
Die Arbeit «Wandzeichnung» von Maria Eichhorn 
bestand aus einem visuellen Teil - der Wandzeichnung, 
einem akustischen Teil - dem gesprochenen Text, der 
sich auf die Wandzeichnung bezieht, sowie einer 
wahrnehmenden Person, die diese Beziehung erst her- 
stellen muss. Die Wände der beiden Räume des Gra- 
phischen Kabinetts wurden geweisst, damit sich die 
Zeichnung um so reiner und präziser von diesem neu- 
tralen Grund abhebt. Die Wandzeichnung selber wird 
determiniert durch die Öffnungen in den Wänden, 
d.h. durch die Fugen der geschlossenen Türen und 
Wandschränke. Drei Kinder lesen in ihrer jeweiligen 
Muttersprache (Deutsch, Französisch und Englisch) 
einen Text vor, der ebenfalls in gedruckter Form auf- 
liegt. Er macht den Ausstellungsbesucher aufmerk- 
sam auf das, was sich hinter den Türschwellen, hinter 
den Limiten unserer Wahrnehmung - ausserhalb der 
black box — befindet. Wandzeichnung als verbale Wand- 
bezeichnunge. 
Gary Simmons 
Der afroamerikanische Künstler Gary Simmons (*1965) 
zeichnet mit weisser Kreide comicsartige Zeichen, die 
Kommentare und Denkanstösse zu sozialen Themen 
darstellen, auf schiefertafelschwarze Wände. Sie dauern 
meistens nur so lange wie die Ausstellung selber. Für die 
beiden Räume des Graphischen Kabinetts hat Simmons 
Szenen aus Vergnügungsparks und ein starscape ge- 
schaffen. Diese Zeichnungen sind gleich nach ihrer 
Fertigstellung verwischt worden: der Künstler hat sie in 
einer Art nicht-öffentlicher Performance mit seinen 
Händen wieder partiell gelöscht —- erasure drawings 
nennt er diese Technik. Im Vergleich zum Prototypen 
des ausgelöschten Werks, Robert Rauschenbergs hoch- 
berühmtem, aber von kaum jemandem je gesehenem 
Erased de Kooning drawing, sınd Gary Simmons’ Zeich- 
nungen noch —- in Fragmenten wenigstens —- erkenn- 
bar. Es geht ihm darum, verzerrte Bildfragmente wie 
Erinnerungsfetzen aufscheinen zu lassen und den 
Betrachter anzuregen, sie in seiner Vorstellung zu 
vervollständigen. Das nostalgische Erinnern ist das 
Hauptthema seiner Zürcher Wandzeichnungen — der 
Vergnügungspark, das Träumen unter den Stern- 
schnuppen. Simmons verbindet sie durch das rhyth- 
mische Verwischen mit Bewegung. Er aktualisiert sie, 
damit wir in ihre Dynamik hineingezogen werden 
und durch Kunstgenuss die berauschenden Nächte 
aus unserer Kindheit nachvollziehen — sublimieren -— 
können. BF 
Pont Alexandre oder Die Altersheiterkeit des Wilfrid Moser. 
Pastelle 1993-1997 
Es ist durchaus ungewöhnlich, dass ein Künstler, der 
vor wenigen Jahren mit einer Retrospektive im grossen 
Ausstellungssaal vorgestellt worden ist (und auch 
dies nicht zum ersten Mal!), erneut Gelegenheit erhält, 
seine seither entstandene Produktion zu zeigen. Im 
Falle von Wilfrid Moser hat sich dieses Vorgehen in- 
sofern aufgedrängt, als im Laufe der vergangenen vier 
Jahre ein Alterswerk herangewachsen ist, das sich in 
der erwähnten Überblicksausstellung im damals jüng- 
sten Gemälde angekündigt, dem Gesamtwerk jedoch 
eine Schaffensphase von zuvor nicht gekannter be- 
freiter und befreiender Leichtigkeit zugefügt hat. Der 
gleichermassen zarte wie kräftige Duktus des Farb- 
auftrags, die vibrierende Transparenz dieser späten Öl- 
kreidezeichnungen, einer Art zeitgenössischer Capricci, 
hat begeisterte Aufnahme gefunden; beinahe alle der 
vom Künstler zum Verkauf freigegebenen Werke haben 
ainen neuen Besitzer gefunden. Dass der Künstler noch 
während der Dauer der Ausstellung überraschend 
gestorben ist, hat nicht nur in seiner Familie und sei- 
nem grossen Freundeskreis Bestürzung hervorgerufen — 
die Ausstellung wurde gleichsam zu seinem Testa- 
ment, in dem zwar einige ahnungsvolle (?) düstere 
Klänge nicht zu übersehen waren, das indessen gesamt- 
aaft betrachtet ein von abgeklärter Altersweisheit ge- 
prägtes Bekenntnis zu Toleranz und Schaffenslust be- 
inhaltete. FR
	        
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