HINWEISE AUF
EINIGE NEUERWERBUNGEN
VALLOTTON DU CÔTÉ DE CHEZ GABRIELLE
Die reine Ausprägung des Phänomens, das Werk, in
dem der Problemkreis einer ganzen Kategorie von
Werken unüberbietbar gestaltet und vor Augen geste llt
wird, das ist es, was man sich für eine M useumss amm-
lung w ünscht und nur selt en erlan gt. Dass das K unst-
haus heute ein solche s Werk sogar geschen kt e rhält,
müsste man gar als ein Wunder bezeichnen, wäre nun
der Mann, dem wir es verdanken, nicht ein beson ders
feinsinniger und weit gebildeter Kunsthistoriker ge-
wesen: Hans Naef, in dessen kaum je von P rofan en
betretenen Studiolo das Bild die Entstehung des viel-
bändigen, grundlegenden Kat aloges der P orträt zei ch-
nungen von Jean Dominique Ingres begleitete. Und
dies war in doppelter Hinsicht sinnvoll: Einerseits
erinnert das Gemälde in auffälli ge r Weise an jenes köst-
liche Interieur von Jean Alaux, in dem M adame Ingres
durch die offe ne Flügeltür des Ateliers zu ihrem Mann
mit der Geige schaut, hinter dem ein weiterer Arbeits-
raum sichtbar wird, andererseits zeichneten sich die
weitläufigen Studien unseres P rivatgelehrten durch die
Eindringlichkeit aus, mit der er in die Lebensumstände
der von Ingres porträtierten Personen und ihres enge-
ren und weiteren Umkreises eindrang.
Das Intérieur avec femme en rouge de dos (Abb. 3)
wäre das gegebene Frontispiz für eine Geschichte des
Innenraumbildes. Wie die anderen, nach ihrem d arge-
stellt en In halt bestimmten Gattungen der geg enstän d-
li chen Malerei – Bildnis, Genre, Stillleben, Landschaft
– löst sich das Interieur durch Isolierung oder Heraus-
hebung eines T eilaspekts aus der von van Eyck und
Alberti begründeten re alisti schen T radition: die Bild-
fl äche als Ausblick oder Einblick in einen als wirklich
erscheinenden Raum. Bereits diese grundlegende
Disposition, die in den mei sten Bildern als Selbstver-
ständlichkeit vo rausgesetz t und so unsichtbar bleibt ,
wird von V allot ton durch das rahmen füllen de Motiv
der sich öffnenden Türe reflektiert. In moderner Weise
wird wie bei den fr ühesten Darste llung en von Innen-
räumen, etwa bei Giotto und noch in der Kirchen -
madonna van Eycks oder den T afeln von Konrad Witz,
deren Aussenseite in der Bildebene gezeigt und gegen
den Betrachter geöffnet. Schon in dem frühe n Haupt-
werk La malade von 1892 evozi ert V allott on auf sub-
tile Weise die vierte, zugun sten der Einsicht weggelas-
sene Wand des Zimmers. Nun moduliert er durch die
S tellu ng der Türflüg el den spezifischen Zugang oder
Ausschluss des Betrachters: Sie ermög liche n den Ein-
bli ck, aber sie weisen zugleich wie nach aussen gedrehte
S tache ln einer Reuse oder Falle ab und run den zugle ich
den Innenraum nach vorn ab.
Wenn nun das Eigentliche eines Interieurgemäldes
darin besteh t, dass es als H auptg egen stand einen
Innenraum in seinem spez ifi schen Charakt er zei gt, so
bietet unser Bild in seiner Staffelung von vier Zimmern
eine ziemlich einmalige Übererfüllung di eser Forde-
rung. Dur chblic ke in einen weiteren Bereich sind
häu fig; kontrastierend oder steigernd mache n sie das
Besondere des Hauptraums, normalerweise des vor-
deren, erst richtig deutlich. Schon weit seltener folge n
sich drei Zimmer, berühmt etwa das Gemälde des
Emanuel de Witte in Rotterdam, auf dessen Boden die
A bfolge von Sonne und Schatten eine erstaunliche
Tiefe evoziert. Vielleicht eine direkte Anregung für
V allotton könnte das hochformatige, mit knappen
Ausschnitten arbeitende T rompe-l’œil von Samuel van
Hoogstraten im Louvre gew esen sein; auch dort liegt
das Hauptgewicht auf dem hintersten, hellste n Raum,
an dessen Rückwand überdies ein Interieur von Ter-
borch mit einer Rückenansicht einer Dame vor einem
Bett zu sehen ist.
Wird nun das Innere des Interieurs in ein noch
relativ Äusseres, ein Inneres, ein noch Innereres und 72