Volltext: Jahresbericht 2001 (2001)

MATISSE IN BARBIZ ON 
Barbizon! Ein mythischer Name in der heroischen 
Erzählun g von der antiheroischen modernen Kunst, 
einer der frühesten, denn weiter reicht die T radition 
der kunstliterarischen Mitstreiter der progressiven 
Maler kaum zurüc k. Barbizon, ein bescheidenes Bau- 
ern dorf am Rande des grossen F orstes und königlichen 
Jagdreviers von F ont ain ebleau, beherbergte schon im 
zweiten Vi ertel des 19. Jahrhunderts eine jener Künst- 
lerkolonien, die man später in ganz Europa fand, in ab- 
gelegenen Gegenden, wo Lan dschaft und Lebensweise 
noch unverdorben und he rk ömmlich schlicht waren. 
Zu den «Entdeckern» des Ortes gehö rte der Zür cher 
Karl Bodmer, noch heute ber ühmt durch seine India- 
nerdarstellungen, der in Paris einen Ersatz für die 
heimatlichen Wälde r suchte: Hier fand er in einer 
Lichtung eine mächti ge alte Eiche, die bald nach ihm 
benannt wurde und die noch der junge Monet in 
einem grossen Gemälde verewigte. V erschiedene be- 
deutende Kün stler wie Cor ot, Millet, Co urbet und 
Daubig ny , arbeiteten gelegentlich hier, am Rande des 
wild belassenen e rsten Naturreservates, doch der 
eigentliche Meister der «Ec ole de Barbizon» war Théo- 
dore R ousseau und ihre Spezialität die intime 
Stimmungslandschaft, auf Ölstudi en in freier Natur 
beruhend oder sogar als richtige Pleinair-Malerei, 
tonig und maleri sch in pastosem Pinselwerk. Damit 
setzte sie sich ebenso von den wohl komponierten, far- 
big frische n und licht vollen klass i schen Landschaftsge- 
mälden wie von den dramat isch erhabenen Szenerien 
der Romantik ab und bildete eine wichtige Vorstufe für 
den unmittelbaren, individuellen Blick auf ein bei läu- 
figes Motiv der Impressionisten. Rousseaus Gemälde 
erscheinen im Rückblick freilich noch ganz von einer 
spätr omant ische n Melancholie getragen, oft düste r 
und stumpf in den Farben bis auf einen abrupten 
Sonnenstrahl, der einen knorrigen Baumstamm unna- 
tür lich gelb oder oran ge ock rig aufle uchte n lässt. Die 
berühmt este Kompositionsformel Rousseaus, zahllos 
von ihm selbst und anderen variiert, zeigt den A usblick 
aus einem Wald, das W uchern der S tämme und Äste 
ri ngsum als schw ärzli ches Liniengewirr im Gegenlicht, 
unten ein matt schimme rnd er Teich, dar über ein fern es 
Abendrot unter weitem, wolkenverhangenem Him- 
mel. 
Barbizon, so nennt Matisse das Lan dschaftsbild , das 
die V ereinigung Zürcher Kunstfreunde durch V ermitt- 
lung der Galer ie Beyeler von einem Nachkommen des 
Künstlers erwerben konnte (Abb. 4). Entgegen seiner 
Gewohnheit hat er den Titel zu seiner Signatur gesetz t, 
und zu nächst darf man wohl annehmen, dass dieser 
den Entstehungsort oder wenigstens das Motiv 
bezeichnet. Die Üppigkeit der Pflanzen und F arben 
evoziert freilich eher südlichere Gefi lde; auch fan den 
wir in der Literatur über M atisse keinen Hinweis auf 
einen Aufenthalt in Barbizon, doch ein A usflug in den 
altber ühmten Künstle rfleck en unweit von Paris 
braucht keinen weiteren Niederschlag gefunden zu 
haben . «Roma feci t» liest man hinter vi elen Künstler- 
bezeichnungen: «in Rom gemacht »; «Barbizon» vor 
«H. Matisse» akzentuiert etwas anders: «Barbizon 
gesehe n von Matisse». Was dies für den sehr bewusst 
vorgehenden Meister der «schei nbar en Leichtigkeit» 
heissen könnte, gilt es zu überlegen: Wie wäre ein 
Bezug zur «E cole de Barbizon» denkbar? 
Hält man ein typisches Werk jener ein halbe s Jahr- 
hun dert frü her täti gen Künstler neben das Bild von 
Matisse, schei nt der Abstan d auf den ersten Blick 
unüberwindbar: düster, ton ig, pastos, me lancho lisch- 
sent ime ntal dort, mit he llen reinen Farben le icht und 
flüssig hingesetzt hier. Und doch gibt es auf zwei 
Eben en klare Bez üge. Der A ufbau des Motivs greift 
das skizzierte Lieblingsschema Rousseaus auf: die 
rahmen de V egetation des V ordergrundes, unten der 
spiegelnde Teich, der Durchblick in der Mitte, wo sich 
anste lle des Abendrots eine rote Fläc he ausbreitet. Die 
Übernahme der Komposition verweist zusammen mit 75
	        
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