Volltext: Jahresbericht 2004 (2004)

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Natur, überwölbt von einem Tiefe und Erhabenhe i t 
umfassenden Numinosen. Trotz ihrer Grösse sind die 
Figur en durch ihre F arben und Bewegungen so vollen- 
det der Landschaft eingebunden, dass sie unmittelba r 
als ihre Gestalt gewordenen Wirkkräfte erscheinen. 
«Je mehr man das Bild betrachtet», fasst Ro ethlisber- 
ger zus ammen, «umso mehr zeigt es sich als Inkarna- 
tion des erhaben heiteren Spätstils Claudes, in dem er 
die Schönheit Raphaels wieder zu erschaffen such- 
te.»15 
Und so klassisch das Ganze wirkt, ist es doch 
erfüllt von der anrühr enden Naivität, die Claudes 
besonderes Geheimnis war und die er sich sonst nicht 
im gl eichen Mass erlauben durfte. Diese Grazie gesell- 
te sich gern der Wirklichkeitsgestaltung der Alten 
Meister zu, doch entfa ltet sie bei ihm einen eigenen 
Zaube r . Nur selten bedacht, finden wir sie gelegentlich 
bei sehe nden und denkenden Künstlern angespro- 
chen. So bedauert Delacroix, dass die völlig reine Voll- 
endung Racines ihm das Berühr ende nimmt, «das 
man in Werken trifft, die voll Schönheit und dabei vol- 
ler Schwächen 
sind».16 
Und auf einer a llgem einen 
Ebene formulierte Goethe in der Diskussion mit Sc hil- 
ler über «naive » und «sentimentalische» Dichtung: 
«Die Dichtkunst verlangt im Subjekt, das sie aus üben 
soll, eine gewisse gutmüti ge, ins Reale verliebte 
Beschränktheit, hinter welcher das Absol ute verbor- 
gen 
liegt.»1 7 
Und dies gilt umso mehr für den ganz auf 
das Bild konzentrierten Maler, der, von der A nschau- 
ung der äusseren Natur erfüllt, diese durch den Zau- 
ber seiner Gestaltungskraft in ein höheres, harmoni- 
sches Sein zu verwandeln weiss. Christian Klemm 
1 
Marcel G. Roet hl isber ger: From Goffr edo Wals to Claude Lorrain 
(Apollo, 1992, S. 209–21 4), ferner Jahresbericht 1996, S. 73f. 
2 
Mar cel G. Roethlisberger: The Houghton Hall Claude (Apollo, 1990, 
S. 300–303), ferner Jahresbericht 1996, S. 74–78. 
3 
Marcel Roethlisberger: Claude Lorrain ’ s « Dance of the Seasons» 
(Pantheon XLV, 1987, S. 103–106). 
4 
Marcel Roe thl isber ger: Cl aude Lorrain. The Pain tings (New Haven, 
1961) S. 158. 
5 
«Ein Bild mit sein em vergoldeten Ra hmen, das den Tanz der vier 
Jahreszeiten darstellt.» Roethlisberger 1961, S. 64–68, bes. S. 66; ita- 
lienischer Origin altext nach Roethlisberger 1987, Anm. 1. 
6 
Roethlisberger 1961, S. 68f; über die Verwandtschaft Claudes S. 79f. 
Über Jean weiss man sonst kaum etwas; er sch eint unverheirat et 1716 
in Rom gestorben zu sein. 
7 
Roethlisberger 1961, zum Testament S. 70, zum Gemälde und se iner 
Inschrift Nr. 240, S. 507f (Wien , Gem ä ldegalerie der Akademie) . 
8 
Roethlisberger 1987 (s. oben Anm. 3). Die Zeichnung in der Samm- 
lung Pal lavicin i, Rom, Nr. 879 bei Mar cel Roethlisberger: Cla ude Lor- 
rain. The D rawings (Berkeley 1 968). 
9 
«Apollo im Begriff der Zeit zu gehorchen. Der Frühling beginnt den 
Tanz. Der Sommer mit sein er Hitze fehlt nicht. Der H erbst mit seinem 
Saft folgt. Der Winte r nimmt seine Zeit wahr.» Lino Manno cci: The 
Etchings of Cla ude Lorrain (New Haven 1988) Nr. 43. 
10 
Marcel G. Roeth lisber g er: The Dimension of Time in the Art of Claude 
Lorrain ( Artibus et historiae XX, 1989, S. 73–92). Dieser von der E ntde- 
ckung unseres Bildes anger egte, besonders inspirierte Artikel Roet h- 
l isber gers bietet eine detaillierte Darstellung der Themat ik bei den 
Myt hogr aphen der Zeit, besonders bei Cartari (S. 75–78 mit Abb. 2). 
11 
London, Wallace Collect ion . Richard Beresford: A Dance to the 
Music of Time by Nicolas Po ussin (London 1 975), zu Ro spiglio si 
(S. 15 –23) und ausführlich zur Ikonographie. 
12 
Roethlisberger 1961, S. 62. 
13 
Beresford 1975, S. 28f. 
14 
Roethlisberger 1987, S. 103. 
15 
Roethlisberger 1987, S. 105. Neben Raphael v erweist hier Roeth- 
lisberger auf Domeni chin o und insbesondere auf dess en Fresken 
mit Apollo aus der Villa Aldobrandin i (jetzt Lon don, National Gallery): 
Neben dem «Tanz der Jahreszeiten» vermachte Claude se inem N effen 
eine Mado nna nach Domenic hino , der ihm sic her nicht nur als Land- 
s cha ftsmaler, so ndern auch in der feinen Psychologie se iner Figuren 
und einer gewisse n «Naivität» nahe sta nd. 
16 
E ugène Delacroix, Journal, 30. November 1853. 
17 
Brief Goethes an Sch iller vom 3. April 1801, dazu Schillers grosse 
Abhandl ung «Über naive und sentimentalische Dichtung», publizie rt 
in den Horen 1795/96.
	        
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