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allen Völkern, über alle Stände und Klassen.
Der Tanz ist urgeschichtlich sicher kein
erotisches Phänomen gewesen. Die Sinn
lichkeit ist ein Urtrieb, also Reiz an sich.
Sie bedarf also zur natürlichen Ausübung
keiner Reizsteigerung. Der Tanz in seiner
Bedeutung als erotisches Gleichnis ist be
reits Abstraktion. Nur künstlerisch un
erzogene Menschen benutzen den Tanz als
erotisches Mittel oder erotischen Zweck.
Tanz ist Bewegung. Bewegung Voraus
setzung jeder künstlerischen Erscheinung.
Gestaltete Bewegung ist Kunst. Das Be
dürfnis zur körperlichen Bewegung ist trieb
haft selbst in den Menschen geblieben, deren
Augen und Ohren noch nicht für optische
und akustische Bewegungen geöffnet sind.
Daher herrscht das Bedürfnis nach Ge
staltung körperlicher Bewegung vor und
der Tanz, eben diese Gestaltung, ist ver
breiteter als die Gestaltungen, die durch
andere Sinnesorgane aufgenommen werden.
Der Tanz ist daher durchaus ohne Musik
darstellbar, gestaltbar und aufnehmbar.
Musik zum Tanz ist bereits akustisches
Gleichnis körperlicher Bewegungsformen.
Die körperlichen Bewegungen wurden durch
die musikalischen Bewegungen mechanisiert,
wurden akademisch. Es entstand derselbe
Grundirrtum für den Tanz wie für die _
Wortkunst: die Verwechslung zwischen
Rhythmik und Metrik. Die Messung der Be
wegungen, die Metrik, ist beschränkt, muss
ihres Zweckes wegen so beschränkt wie
möglich sein. Die Bewegungen selbst, die
Rhythmen, sind unbeschränkt. Sie sind
durch ihre räumlichen und zeitlichen Be
ziehungen zueinander, gegeneinander und
miteinander unendlich und unanfänglich. Je
gemessener die Tanzbewegungen wurden,
desto gemessener wurde die Musik. Beide
wurden nämlich mässig. Während Kunst,
nämlich gestaltete Bewegung, zwar nicht
messlos, aber masslos ist. Der Tanz wurde
nicht einfach, er wurde vereinfacht. Die
Bewegung von dem Metrum der Musik ab
hängig gemacht. Tanz und Tanzmusik
wurden gebildet, statt gebildet zu werden.
Für die Form wurde die Formel gesetzt.
Der zweite Grundirrtum entstand: es wurde
Form mit Formel verwechselt.
Nun entsteht die alte Erkenntnis für das
Wesen und das Wesentliche des Tanzes
neu aus der Musik. Der Shimmy tanzt
über verblühte Kulturen. Der Stepp und
der Trott ebneten ihm den Weg. Es ist
derselbe schwere Irrtum, anzunehmen, dass
es sich hier um eine Mode handelt, wie
es ein Irrtum ist, den Expressionismus für
eine Richtung zu halfen. Den Komponisten
in Amerika lällt nichts ein, sagten die
Europäer. Richtiger gesagt: es fiel ihnen
nur dasselbe ein, wie den Europäern, näm
lich Mozart und Beethoven oder R. Wagner,
soweit es sich um die ganz hohe Kunst
handelt. Oder Johann Strauss, soweit es
sich nicht um die ganz so hohe Kunst han
delt. Plötzlich fiel den dortigen Komponisten
zwar nicht etwas ein, aber etwas auf. Die
Eingeborenen, zu denen sie nicht gehörten,
machten auch sozusagen Tonkunst, wenn
auch ohne Benutzung der europäischen
Instrumentenindustrie und ohne Kenntnis
der höheren Kollegenschaft. Warum sollte
man das nicht schliesslich auch verwerten.
Und es muss anerkannt werden, dass diese
Verwertung von Urrhythmen ausserordent
lich künstlerisch erfolgt ist. Der Wert eines
Kunstwerks besteht nämlich nicht in der
Idee, sondern in der Gestaltung. Nicht der
Septimenakkord, nicht die Chrysantheme
oder gar das rätselvolle Lächeln einer ge
malten Dame machen ein Kunstwerk. So
nüchtern es auch in der Idee wirkt, Kunst
entsteht nur durch die Gestaltung von Ton-
Wort- und Farbform-Beziehungen. Das
Saxophon ist ebenso künstlerisch wie die
Violine. Sie sind nämlich beide unkünst
lerisch. Kunst entsteht nur durch ihre
rhythmische und tonliche Verwendung.
Der Shimmy wird gespielt. Der Shimmy wird
getanzt. Und plötzlich herrscht der Shimmy
über ganz Europa. In Deutschland mit einem
einzigen Hindernis. Es konnte bisher intel
lektuell nicht einwandfrei ermittelt werden,
ob man richtiger Shimmy oder Jimmy schrei
ben müsse. Immerhin wurde er indessen
auch in Deutschland getanzt, wo man sich
bisher stets durch Musikprofessoren, Kunst
kritiker und Germanisten zu lange aufhalten
liess. Und es ereignete sich etwas merk
würdiges: viele Menschen fanden eine Be
ziehung zum Tanz, den sie bisher als in
tellektuell unzulänglich abgelehnt hatten.
Noch mehr: Berufstänzer und Berufstänze
rinnen konnten plötzlich im Ballsaal nicht
tanzen. Ihre Füsse waren metrisch gefesselt.
Sie stolperten über den Rhythmus. Die
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