Volltext: Sirius : Monatsschrift für Literatur und Kunst (7)

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terische Realität geben müssen. Das konnte er nicht. Denn 
eine Menschheit, die nicht einmal mehr ein Scheinleben führt, 
ist tot. Er hätte die Toten reden lassen müssen. Die aber 
sprechen nach seinem grammatischen Willen nur auf der Bühne 
und wenn sie vom Zuschauerraum aus dieses Gerede hören und 
der Meinung sind, dass Herr Blei recht habe, wenn er es bei 
faktischer Unwirklichkeit des Geredeten für dichterische Realität 
halte, so hat Herr Blei recht. So sprechen die Toten. Und 
Herr Blei ist unter ihnen. Er sagt, wobei sein grammatischer 
Wille zu eigenwillig wird, über Ibsen: „Er sagt über seine Er 
findungen aus, was sie sein sollen, nicht aber diese Erfindungen 
drücken sich selbst aus, besser: wirken sich aus. Denn es 
wurde gar nichts erfunden.“ Während jedoch Ibsen über seine 
Erfindungen aussagen soll, obwohl doch gar nichts erfunden 
worden sei, erhält Strindberg ein sehr peinliches Lob: „Die Idee 
wurde durch die Leidenschaft leibhaft und da ist keine Frage 
mehr, ob sie richtig oder falsch oder pathologisch oder sonst 
was ist, das einer Theorie entspricht, in deren Kalkül weder die 
Leidenschaft noch der Dichter steht." Richtig oder falsch, das 
wäre also grau wie alle Theorie und die Idee, die durch die 
Leidenschaft leibhaft wurde, wäre richtig, auch wenn sie falsch 
wäre, und ihr Dichter wäre keiner, wenn man von ihr sagen 
könnte, sie wäre richtig. Gleichwohl lässt Herr Blei nicht weit 
dahinter so sich vernehmen : „Alles Klärende ist ja gerade dieser Zeit 
zuwider und alles Trübe, Vermengte, Unklare ist ihr das allein 
Rechte." Und abermals hat Herr Blei recht und beweist dadurch, 
dass es nicht genügt, Wahres zu sagen, sondern dass es auch 
nötig ist, Falsches als nicht wahr zu erkennen. Zum Beschluss 
des Blendfeuerwerks, das er vor Herrn Sternheim abbrennt, um 
ihn richtig zu beleuchten, spricht er die Hoffnung auf die Tra 
gödie des deutschen Menschen aus, „welche ist, dass wir kein 
Ganzes sind und dies erleiden müssen, um es zu überwinden.“ 
Es ist sehr zweifelhaft, ob er die Tragödie des Engländers, des 
Russen, des Franzosen und der übrigen Völker zu definieren 
imstande wäre, und darum auch, ob er die des deutschen 
Menschen definiert hat. Da er sie darin sehen will, dass der 
deutsche Mensch keinem politischen Ganzen sich zugehörig fühle, 
so stünde ein Deutscher, der keinem politischen Ganzen sich 
zugehörig fühlte, vor seiner Tragödie, da er kein Deutscher 
mehr sei, und dies überdies erleiden müsse, um zu überwinden, 
dass er kein Deutscher mehr sei. Das, Herr Blei, ist nicht die 
Tragödie des deutschen Menschen. 
Sie ist wie die aller Menschen die des Menschen. Seine 
Tragödie ist die einzige und grösste. 
Walter Seiner
	        
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