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terische Realität geben müssen. Das konnte er nicht. Denn
eine Menschheit, die nicht einmal mehr ein Scheinleben führt,
ist tot. Er hätte die Toten reden lassen müssen. Die aber
sprechen nach seinem grammatischen Willen nur auf der Bühne
und wenn sie vom Zuschauerraum aus dieses Gerede hören und
der Meinung sind, dass Herr Blei recht habe, wenn er es bei
faktischer Unwirklichkeit des Geredeten für dichterische Realität
halte, so hat Herr Blei recht. So sprechen die Toten. Und
Herr Blei ist unter ihnen. Er sagt, wobei sein grammatischer
Wille zu eigenwillig wird, über Ibsen: „Er sagt über seine Er
findungen aus, was sie sein sollen, nicht aber diese Erfindungen
drücken sich selbst aus, besser: wirken sich aus. Denn es
wurde gar nichts erfunden.“ Während jedoch Ibsen über seine
Erfindungen aussagen soll, obwohl doch gar nichts erfunden
worden sei, erhält Strindberg ein sehr peinliches Lob: „Die Idee
wurde durch die Leidenschaft leibhaft und da ist keine Frage
mehr, ob sie richtig oder falsch oder pathologisch oder sonst
was ist, das einer Theorie entspricht, in deren Kalkül weder die
Leidenschaft noch der Dichter steht." Richtig oder falsch, das
wäre also grau wie alle Theorie und die Idee, die durch die
Leidenschaft leibhaft wurde, wäre richtig, auch wenn sie falsch
wäre, und ihr Dichter wäre keiner, wenn man von ihr sagen
könnte, sie wäre richtig. Gleichwohl lässt Herr Blei nicht weit
dahinter so sich vernehmen : „Alles Klärende ist ja gerade dieser Zeit
zuwider und alles Trübe, Vermengte, Unklare ist ihr das allein
Rechte." Und abermals hat Herr Blei recht und beweist dadurch,
dass es nicht genügt, Wahres zu sagen, sondern dass es auch
nötig ist, Falsches als nicht wahr zu erkennen. Zum Beschluss
des Blendfeuerwerks, das er vor Herrn Sternheim abbrennt, um
ihn richtig zu beleuchten, spricht er die Hoffnung auf die Tra
gödie des deutschen Menschen aus, „welche ist, dass wir kein
Ganzes sind und dies erleiden müssen, um es zu überwinden.“
Es ist sehr zweifelhaft, ob er die Tragödie des Engländers, des
Russen, des Franzosen und der übrigen Völker zu definieren
imstande wäre, und darum auch, ob er die des deutschen
Menschen definiert hat. Da er sie darin sehen will, dass der
deutsche Mensch keinem politischen Ganzen sich zugehörig fühle,
so stünde ein Deutscher, der keinem politischen Ganzen sich
zugehörig fühlte, vor seiner Tragödie, da er kein Deutscher
mehr sei, und dies überdies erleiden müsse, um zu überwinden,
dass er kein Deutscher mehr sei. Das, Herr Blei, ist nicht die
Tragödie des deutschen Menschen.
Sie ist wie die aller Menschen die des Menschen. Seine
Tragödie ist die einzige und grösste.
Walter Seiner