6
Das kosmische Gehirn
E ine der grössten naturwissenschaftlichen Entdeckungen von fruchtbarster Bedeutung
für alle Kultur enthält das Buch, das Ernst Marcus „Das Problem der exzentrischen
Empfindung und seine Lösung“ nennt. (Verlag „Der Sturm“ Berlin 1918.) Ernst Marcus
in Essen, der Krupp der Logik, insbesondere ihrer sittlichen Wirksamkeit, ist der
würdigste Anwärter des Nobelpreises. Seif zwei Jahrzehnten durchbohren die
Intelligenzgeschosse seiner Werke die Panzerplatten sittlicher Irrfümer.
Alle Erkenntnis der Natur beruht auf der Empfindung der Sinne. Was ist am
Schmecken, Riechen, Hören, Tasten und Sehen so rätselhaft? Die Empfindung ist
Tatsache, die man nicht weiter erklären kann. Hingegen löst Marcus das erklärbare
Rätsel ihrer „Exzentrizität", mit anderen Worten: dass sämtliche Wahrnehmungen
unserer Sinne ausserhalb des Zentrums der Wahrnehmung, des Gehirns, gelegen sind;
und er löst dieses Rätsel nafurgese^lidi.
Der Laie wähnt, fertiges Licht ströme von aussen her ins Auge, und man sähe
dann die Körper selbst. Beides ist Irrtum. Licht entspringt erst aus der Reizung des
Sehnervs. Wir sehen aber auch niemals Körper, sondern identifizieren (irrtümlich)
gesehene Gebilde mit gefasteten Körpern. Wie ein Geschütz das Geschoss in die
Ferne schleudert, ähnlich schiessf das Gehirn auf äusseren Reiz die Empfindung hervor.
Ein lichfloser Reiz lässt so die Lichfempfindung explodieren, welche demnach leiblich
wohl entspringt, aber ausserleiblidi auffriff. Wir empfinden in alle Weifen, „als ob sich
die Seele weif über den Leib hinaus erstreckte bis zum Horizont, ja bis zu den Lichf-
gebilden der Sterne.“ — „Exzentrisch“ entströmt das Licht dem Zentrum, dem Gehirn,
nachdem dieses „konzentrisch“ durch eine lichflose Ursache gereizt worden ist. Auf
Körper schliessf der Sehende zwar; aber dieses Schliessen von den Sehgebilden auf
die Körper selbst vollzieht sich, nach anfänglich langsamem Erlernen, bald so blitz
schnell und sicher, dass wir die Körper selber zu sehen vermeinen (ein Urfeilsfrug).
Die gesehene Sonnenscheibe ist ja nicht etwa mit dem Sonnenkörper identisch; sondern
wir schliessen aus der Kleinheit und Ferne des optischen Gebildes auf das Dasein
eines grossen Körpers. Meine eigene gesehene Hand ist etwas anderes als ihr
Körper und fällt durchaus nicht mit ihm zusammen. Tasfbarkeif ist nicht Sichtbarkeit, und
die nur gesehene Welf ist nicht wirklicher als ein Spiegelbild, also nur „ein traumhaft
zartes Empfindungsgebilde . . . von der Körperwelf so verschieden und geschieden
wie die gemalten Kulissen des Theaters von einer wirklichen Landschaft.“
Bisher nahm der Physiker an, das Licht der Aussenwelf entwerfe ein Bild auf
der Netzhaut des Auges, und dieses Bild werde dann auf die Körper, von denen es
ausging, zurückgeworfen (wie die Glasbilder der magischen Laterne auf den Schirm).
Weil die Netzhaut am Sehen beteiligt ist, hält man sie voreilig für den Sitz der Lichf
empfindung. Der Physiolog setzt richtig voraus, dass es ohne den optischen Sinn
kein Licht gibt. Er weiss ferner, dass nicht nur die Netzhaut, sondern das Gehirn zur
Lichtempfindung mifwirkf. Aber auch er schliessf irrig von der Mitwirkung auf den
Sitz der Wirkung. Die Empfindungen sitzen aber, obwohl sie ohne Gehirn nicht ent
springen könnten, tatsächlich ausserhalb desselben. Auf der Netzhaut oder gar im
Gehirn hat noch niemand Lichtempfindungen wahr genommen. Physiker und Physiolog
haben nicht den ehrlichen Tafsachensinn wie Marcus, den unmittelbar aussergehirn-
lichen Sitz der Empfindung, bevor sie ihn noch erklären, einfach anzuerkennen;
sondern, da sie sich gar nicht erklären können, wie es ausserhalb der Nerven eine
Empfindung geben könne, machen sie sofort ihren Rückschluss auf deren Sitz im