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mußte, so konnte in der Ausstellung etwas Neues und lebendiges
erstehen, das die Kenner sowohl wie die ganz Unvorbereiteten auch
frisch und empfänglich finden mußte. Nicht eine Ausstellung zur
Illustrierung und mehr oder weniger überzeugenden Bestätigung
eines irgendwann und irgendwo formulierten kunstgeschichtlichen
Tatbestandes, sondern zu direkter persönlicher Auseinandersetzung
und unmittelbarer Anschauung für jeden einzelnen Beschauer vor
jedem einzelnen Werk. Das Ziel war, die Möglichkeit zu schaffen,
zu neuem, unmittelbarem Erleben und daraus erst zur Erweiterung
des Wissens, nicht Formung des Planes und des Stoffes zum voraus
nach dem gerade heute geltenden Wissen und Urteil; Ausgangs
punkt nicht das Buch oder die Photographiensammlungen, die sich
zu stilkritischen Experimenten so bequem und handlich anbietet
wie die säubern Präparate zu chemischen Reaktionen, dabei aber
meist doch nur von den Bildern und ihrem Leben grausam weit
hinwegführt, sondern das farbige, lebendige Kunstwerk.
So legt sich denn die ganze Ausstellung von annähernd drei
hundert Bildern und Skulpturen um den einen großen Saal mit
der Gruppe der acht unvergleichlichen Bilder von KonradWitz,
an die sich, meist mit ruhigen Einzelfiguren und einfachen, wenig
umfangreichen Kompositionen in klaren Lokalfarben, fünfund
zwanzig Tafeln von schweizerischen „Nelkenmeistern“ schließen.
Zu eindringlicherer Primitivität führt ein kleiner Vierecksaal, der
anonyme Tafeln aus dem Anfang des XV. Jahrhunderts
von verschiedener Herkunft aber gleichartig reiner Religiosität
und Ausdruckskraft umfaßt, während nebenan, im Raum mit den
kleinen Altären von Hans Fries und dem Meister von Meß-
kirch, die malerische Virtuosität, die Freude an der sinnlichen
Schönheit leuchtender Farben und schwingender Bewegung alles
andere, auch den religiösen Gedanken überstrahlt. Ein Achteck
kabinett stellt Bildnisse aus dem Anfang des XVI. Jahr
hunderts einander gegenüber; namenlose, die nur für den Emst
und die Tüchtigkeit einer oberrheinischen, baslerischen und berne
rischen Tradition zeugen, zwei Gelehrtenbildnisse von Lukas
Cranach, aus klarer zeichnerischer Anschauung heraus geschaffen
mit einem Nebeneinander von hellblauem Hintergrund, schwarzer
Kleidung und rötlicher Fleischfarbe; ein Künstlerbildnis von Hans