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Die Kulisse.
Das Hermaphrodisische ist indessen nur ein Teil der proteischen
Gesamtanlage; diese selbst hat tiefere Gründe. Gleichviel worin
sie bestehen mögen, das eine ist gewiß: Menschen, die in der
Wurzel erstarrt und vertrocknet sind, die sich nicht mehr ver
setzen und wandeln können, hören auf, Gedanken zu haben und
produktiv zu sein.
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München beherbergte damals einen Künstler, der dieser Stadt
vor allen andern deutschen Städten durch seine pure Anwesen
heit einen Vorrang der Modernität verlieh: Wassilij Kandinsky.
Man mag diese Einschätzung übertrieben finden, damals empfand
ich es so. Was könnte einer Stadt auch Schöneres und Besseres
begegnen, als einen Mann zu beherbergen, dessen Leistungen
lebendige Direktiven der edelsten Art sind? Als ich Kandinsky
kennen lernte, hatte er eben „Das Geistige in der Kunst“ und
mit Franz Marc zusammen den „Blauen Reiter“ veröffentlicht,
zwei programmatische Bücher, mit denen er den später so ent
arteten Expressionismus begründete. Die Vielfalt und Innigkeit
seiner Interessen war erstaunlich; mehr noch war es die Höhe
und Feinheit seiner ästhetischen Konzeption. Was ihn beschäftigte
war die Wiedergeburt der Gesellschaft aus der Vereinigung aller
artistischen Mittel und Mächte. Keine Kunstgattung hatte er ver
sucht, ohne ganz neue Wege zu gehen, unbekümmert um Hohn
und Gelächter. Wort, Farbe und Ton waren in seltener Eintracht
in ihm lebendig und er verstand es, noch das Verblüffende stets
plausibel und ganz natürlich erscheinen zu lassen. Sein letztes
Ziel aber war, Kunstwerke nicht nur zu schaffen, sondern die
Kunst als solche zu repräsentieren. Sein Ziel war, in jeder einzel
nen Äußerung exemplarisch zu sein, die Konvention zu durch
brechen und zu erweisen, die Welt sei noch immer so jung wie
am ersten Tag. Es konnte nicht ausbleiben, daß wir einander be