PABLO PICASSO: GRAND NU, 1964
«Grand Nu» ist ein charakteristisches Alterswerk, Erfüllung einer jahr-
zehntelangen malerischen Erfahrung. Dies offenbart sich gleichermaßen im
Großen wie im Kleinen : die Komposition vereinigt Monumentalität und Ge-
löstheit, die dem ganzen Werk eine leichte Lesbarkeit verleiht; die Detailbe-
handlung zeugt von einer Wandlungsfähigkeit der Pinselführung, dieletzte
Meisterschaft und Freiheit im Umgang mit Farbe und Form voraussetzt.
Die strengste zeichnerische Durchführung betrifft die Kopfpartie. Deutlich
ist) in der Kombination von Frontal- und Seitenansicht des Gesichtes ein
Gestaltungsprinzip zu erkennen, das im Kubismus entwickelt wurde, um
mit flächigen Mitteln und ohne Zuhilfenahme eines perspektivischen
Ilusionismus das Volumen eines Körpers wiederzugeben. Durch das Auf-
teilen in einzelne, zur Bildebene parallele Ansichtsflächen wurde im
Kubismus vor dem Ersten Weltkrieg die Kontinuität des dargestellten
Gegenstandes negiert (Analytischer Kubismus). Picasso, auf dessen Erfin-
dungsgabe die Entwicklung des Kubismus bekanntlich weitgehend zurück-
geht, hat in späteren Jahren immer wieder auf dieses simultane Darstellen
mehrerer Ansichtsseiten desselben Motivs zurückgegriffen, ist jedoch
- möglicherweise beeinflußt durch den Surrealismus — auf Lösungen ge-
kommen, die die Einheit des Bildgegenstandes zu wahren vermögen, wie
dies auch beim Kopf des «Grand Nu» beobachtet werden kann. Unmittel-
bare Vorläufer zu dieser Formgebung finden sich somit nicht im klassischen
Kubismus, sondern in Köpfen der dreißiger Jahre, insbesondere in Porträts
von Dora Maar’. Von der formal bis ins Detail streng durchgearbeiteten
Kopfpartie des «Grand Nu» weicht das übrige Bildgeschehen ab. Am
skizzenhaftesten ist der mächtige, senkrecht aufragende linke Fuß geblie-
ben. Gegengewicht zur massigen rechten Bildhälfte mit den über den Kopf
gelegten Armen — extremer Gegenpol auch in der malerischen Durch-
führung: Auflösung und Spontaneität der Form kontrastieren gegen ge-
bannte Form, die selbst unscheinbare Einzelformen wie die Halsringe — die
«Venusringe» sind ein der abendländischen Kunst seit der Antike geläu-