Dies gilt auch für unsere Bretagne-Landschaft. Unter dem
düsteren Gewitterhimmel konzentrieren sich die leuch-
tendsten Stellen - auf den Dreiklang von Blau-Gelb-Grün
gestimmt — in der Bildmitte, in und über den blauen und
gelben Dächern der zentralen Häuser, wo sie einen
Eindruck von Helligkeit hervorrufen, auch wenn kein
eigentliches Licht das Bild erfüllt. Mit lockeren, grosszü-
gigen Pinselstrichen sind die Häuser des Dorfes und die
etwas höher gelegene Windmühle charakterisiert. Die
Diagonalführungen der Hauskanten ziehen den Blick in
die Tiefe bis hin zu dem ferngerückten Meer und dem
dahinterliegenden Bergzug. Der Bewegung des in Grau-
blau- und Beige-Tönen gehaltenen Himmels antworten im
Vordergrund die dynamischen Pinselzüge der Vegetation.
Der lose Verband der verschiedenartigen Grüntöne, mit
dem Bäume und Sträucher angedeutet, jedoch nicht «abge-
bildet» sind, formt als freie Farbbewegung eine nach unten
auslaufende Barriere, die den direkten Zugang ins Bild
versperrt.!® Der lockere Farbauftrag ist kennzeichnend für
diese Periode in Vuillards Werk, und er lässt sich ganz
speziell in der Serie der Saint-Jacut-Landschaften nach-
weisen. Der Charakter des Skizzenhaften, der dem Bild
eine grosszügige Note verleiht, entsteht auch durch die
breiten Flecken unbemalt stehengelassener Leinwand. Aus
diesem Nebeneinander von «fertigen» und «unfertigen»
Partien gewinnt das Bild einen besonderen Reiz, wobei die
betonte Mitsprache des Malgrundes für eine erneute
Bindung an die Fläche sorgt. Die malerische Freiheit und
Spontaneität unserer Landschaft steht im Gegensatz zu
manchen anderen Werken aus der Zeit nach 1900, in der
Vuillard, vor allem in den Interieurs und in den offiziellen
Porträts, in Gefahr war, in eine allzu illusionistische Darstel-
lungsweise und kleinliche Detailschilderung zu verfallen,
die das Urteil begründen, er sei nach seinem zukunftswei-
senden Frühwerk zu einer traditionellen Malweise zurück-
gekehrt. Parallel dazu entstanden jedoch immer wieder
insbesondere in den Porträts seiner engsten Freunde und in
den Landschaften — grosszügige, «skizzenhafte» Komposi-
tionen, die in der Mitsprache der leeren Fläche und in der
Bindung der Bildelemente an die «surface plane» die Konti-
nuität zwischen seinen frühen und seinen späteren Bildern
wahren.
1 Jacques Salomon, Vuillard Temoignage, Paris 1945, S. 100 £.
2 Ebenda, 5. 50.
3 Village au bord de la mer (Saint-Jacut/Bretagne), 1909, ÖlaufLeinwand,
H 81 cm, B 100 cm, Nachlassstempel unten rechts: E. Vuillard. Herkunft:
Nachlass Vuillard; Galerie E.J. van Wisselingh & Co., Naarden; Galerie
Peter Nathan, Zürich.
Curt Schweicher, Die Bildraumgestaltung, das Dekorative und das
Ornamentale im Werke von Edouard Vuillard. Trier 1949, 5.16.
; Das Tagebuch von Vuillard, das aus 48 handgeschriebenen Bänden
vesteht, ist im Institut de France deponiert. Seit 1980 zugänglich
gemacht, kann es dort auf Mikrofilm eingesehen werden.
5 Salomon 1945, S. 52, schreibt: «C’est presque toujours un croquis qui
sera ’amorce du tableau car Vuillard peint rarement «sur» nature et
nous ne nous souvenons pas lui avoir connu un chevalet de campagne.»
' Eine ganz ähnliche Ansicht zeigt das Pastell B 1088 «Vue depuis Duples-
sis». Unserem Bild vergleichbar ist auch «Effet de soleil sur Saint-Jacut»
‘B 1082), das ebenfalls vom Südbalkon aus gemalt worden istund in dem
blaue und gelbe Dächer mit einem grünen Vordergrund zusammenspie-
len. Ein Pastell benennt die blauen Dächer sogar im Titel: «Les toits
bleus» (B 1066 P).
Die Darstellung Vuillards als Photograph und die Beziehung zwischen
seinen Photos und seinen Bildern wäre einmal ein lohnendes Thema.
Das Archiv von Salomon verwahrt Hunderte von Photographien des
Künstlers.
Tagebuch von Vuillard, zitiert nach der maschinengeschriebenen
Transkription von Antoine Salomon. (Vgl. Anmerkung 5)
Jacques Salomon berichtet in seinem Buch «Aupres de Vuillard», Paris
1953, dass er miterlebt habe, wie Vuillard einmaleine Reihe seiner Bilder
verbrannte, wogegen er heftig protestiert habe. «P’intercede pour une
grande toile representant un paysage de Bretagne largement peint a l’es-
sence: «emportez-lä, me dit Vuillard, mais promettez-moi que vous pein-
drez dessus». Sans hesiter je m’y engage ... mais je n’al pas encore tenu ma
promesse.» (S. 80). Antoine Salomon meint, dass es sich bei diesem Bild
um unsere Bretagne-Landschaft handeln könnte. Wenn ja, war es viel
jeicht die fast bis zum Abstrakten gehende «Wildheit» des Pinselstrichs,
die Vuillard dazu veranlasste? Zahlreiche Werke aus der Zeit von Saint-
Jacut, die uns heute in ihrer Skizzenhaftigkeit besonders ansprechen,
bezeichnete er selbst als «pochade».
Ursula Perucchi-Petri