Volltext: Jahresbericht 1989 (1989)

des Munch-Komplexes wie der «Blauen Frau» verwendete. 
Doch vor der Urtümlichkeit der Skulptur verblasst der 
Gedanke an solche Beziehungen, vielmehr ragt sie über 
Munch in tiefere Zeiten nordischer Erinnerungen zurück 
bis zu jenen monumentalen, aus Mooren geborgenen, un- 
‘Ormig ragenden Idolen. Auf sie weist die brettartige Flach- 
1eit von Rumpf und Gliedern zurück; ihre durch die Ver- 
witterung von Jahrtausenden schrundig gewordene Ober- 
läche vergleicht sich der ungeschlacht energischen 
Behandlung, die Baselitz dem Holz angedeihen lässt. 
Doch so gewaltsam dieses Einhauen auf das sich Her- 
ausschälende oder solch elementare Formgegebenheiten 
wie der abrupte Kontrast von flachen und plastischen 
Teilen erscheint, findet sich in der grossen Figur ebenso wie 
in den frühen «Helden» nicht Brutales, sondern neben der 
mächtigen Ausstrahlung auch sanft Anrührendes. So 
>estimmt eine geradezu zärtliche Sinnlichkeit die Behand- 
lung der Hände: die Rechte öffnet sich dem Betrachter, die 
Linke ruht tastend auf dem Schenkel. Die Ausdruckskraft 
des scheinbar Ungeschickten enthüllt einen sehr präzisen 
Gestaltungswillen, der hier ein neues und zugleich uraltes 
Menschenbild erschafft, Die Verbindung männlicher Kör- 
perproportionen mit weiblichen Geschlechtsmerkmalen 
tönt den ursprünglich explizit androgynen Charakter der 
Skulptur an, der dem heutigen Suchen nach einem harmo- 
nischeren Verhältnis zwischen den Geschlechtern ent- 
;pricht. Wie ein Gegenstück erscheint in dieser Hinsicht 
der im Jahr zuvor entstandene «Rote Mann» in Zürcher Pri- 
vatbesitz; auf den Entwürfen sieht man Brüste und in der 
Ausführung wirkt der Bauch wie schwanger. 
Eine ähnlich «moderne» Umkehrung von Werten der 
<lassischen Figurenauffassung bedeutet die Verlagerung 
uch der physischen Energie in den Kopf, von dem der 
Körper und die Beine «abhängen». Während diese in der 
zriechischen Tradition als säulenhaft tragend gegeben 
wurden, sind sie hier das schwächste Glied, schwebend und 
üch zitternd öffnend. Vitale rote Farbe verbindet den 
Sopf, seine bannenden Augen und die gewaltige Nase, 
Zrüste und Scham mit der Bodenplatte, die im Gegensatz 
zu den Baumstämmen früherer Arbeiten auf eine techni- 
sche Basis verweist. Von ihr steigt ein Eisenstab auf und hält 
die Figur, die trotz ihrer Mächtigkeit nicht mehr auf den ei- 
genen Beinen zu stehen vermag. 
Wir wollen hier mit der metaphorischen Aufschlüsse- 
lung des «Gruss aus Oslo» innehalten; das analytische Ver- 
fahren ist dieser als Ganzheit und sinnliche Präsenz den 
Betrachter erfüllenden Gestalt letztlich unangemessen. 
Weit über die an der afrikanischen Kunst orientierten Ver- 
suche der deutschen Expressionisten hinaus vermag hier 
Baselitz durch ebenso elementare wie unerwartete plasti- 
sche Mittel ein ganz neues Menschenbild zu schaffen. Dass 
dieses bei aller Neuartigkeit die Aura des Uralten, Naturge- 
gebenen ausstrahlt, dieses rätselhafte Staunen Erweckende, 
beruht vielleicht gerade darauf, dass Baselitz keinen Stil, 
keine vervollkommnungsfähige Formsyntax sucht, son- 
dern dass in Figuren wie dem «Gruss aus Oslo» grundsätz- 
liche Gestaltungsmöglichkeiten aus ihren herkömmlichen 
Bindungen gelöst und zu neuen konzeptuellen Einheiten 
organisiert werden, 
Christian Klemm
	        
Waiting...

Nutzerhinweis

Sehr geehrte Benutzerin, sehr geehrter Benutzer,

aufgrund der aktuellen Entwicklungen in der Webtechnologie, die im Goobi viewer verwendet wird, unterstützt die Software den von Ihnen verwendeten Browser nicht mehr.

Bitte benutzen Sie einen der folgenden Browser, um diese Seite korrekt darstellen zu können.

Vielen Dank für Ihr Verständnis.