Volltext: Jahresbericht 1993 (1993)

Durch die Gestaltung der Figuren kann nun das Einzel- 
werk innerhalb der Rahmenstruktur entsprechend den 
Erfordernissen des gewählten Themas vielfältig differen- 
ziert werden. Für den Oberon greift Füssli auf den Apoll 
von Belvedere und damit auf eine besonders reichhaltige 
Tradition zurück, die seinem kombinatorischen Umgang 
mit dem Material bereits seit dem Manierismus kräftig vor- 
gearbeitet hat. Die Haltung, die Leochares dem herbei- 
schreitenden und weit über den Bogen seinem Geschoss 
nachblickenden Gott zu geben wusste, machte diesen zur 
klassischen Gestaltung der Epiphanie, der sich enthül- 
lenden Offenbarung eines Überirdischen, und damit für 
Füsslis Zwecke sehr geeignet. Wie die Vorzeichnung in der 
Graphischen Sammlung des Kunsthauses zeigt — eine der 
seltenen Detailstudien und anscheinend die einzige zu 
einem Gemälde in Zürich — experimentiert Füssli zugleich 
mit Frontal- und Profilansicht und der Vertauschung der 
Seiten: das Resultat zeigt Kopf, Arme, Körper seitenver- 
kehrt im Profil, während die in ihrer Bewegung vom 
Schreiten zum Schweben gesteigerten Beine der Frontal- 
ansicht entsprechen. Dadurch wird der Figur mit dem 
kontrapostischen Drehmoment die Raum erschliessende 
Spannung genommen und sie der ganz von der Flächen- 
rhythmik bestimmten Kompositionsweise Füsslis ange- 
passt. Freilich mag er sich bereits an älteren derartigen 
Umformungen orientiert haben, etwa an einem tanzenden 
Faun aus Pompeji, der zur balletthaften Grazie des Elfen- 
königs passte, oder an den von Matham nach Goltzius 
gestochenen Frühling, gleichfalls Blumen streuend und die 
Linke lässig eingestützt. Dass diese Geste seit Lysipps Alex- 
ander-Statue zur Herrschertypologie gehört, deutet Füssli 
durch das Szepter an, das freilich durch solch nonchalante 
Handhabung des würdevollen Hoheitszeichens dessen 
Bedeutung ins Ironische schillern lässt. 
Der Bezug zu der manieristischen Jahreszeitenallegorie 
führt uns zurück in die Ideenwelt jener Zeit, in der auch 
Shakespeare seinen Sommernachtstraum dichtete. Im 
zweiten Akt stösst das entzweite Königspaar aufeinander, 
und da schildert Titania, wie der Elfen Streit die Natur aus 
ihren Bahnen treten, die Jahreszeiten sich verwirren lässt: 
sie sind es, diese unfassbaren Natur- oder Geisterwesen, die 
im Sublunaren Hitze und Feuchte, Zeugung und Wachs- 
tum sympathetisch im Gleichgewicht halten und zur kos- 
mischen Harmonie in Mikro- und Makrokosmos bei- 
tragen, eingebunden in die Catena aurea, die goldene Kette 
der Wirkungskräfte, die durch alle Sphären das Oberste mit 
dem Untersten zusammenhält. Nicht von ungefähr 
schwebt Oberon vom Monde nieder zu seiner Gattin aus 
dem Geschlecht der Titanen, der alten Erdgötter: weniger 
zin Bild der Entzweiung und Behexung dünkt es uns, als 
zine allegorische Vorstellung jener magischen Vereinigung, 
die noch in Eichendorffs Mondnacht nachklingt: 
«Es war, als hätt’ der Himmel 
Die Erde still geküsst, 
Dass sie im Blütenschimmer 
Von ihm nun träumen müsst.» 
Tatsächlich durchdringt ein rhythmischer Wohlklang 
das Gemälde wie selten ein Bild von Füssli. Durch die 
Gegenläufigkeit zur normalen Richtung von links nach 
rechts bleibt die Bewegung Oberons in der Schwebe; nicht 
mit Flügeln oder durch den Raumsog der Tiefe, wie auf 
spätbarocken Deckengemälden, sondern eingespannt und 
aufgehoben in den Energien der Bildfläche, bleibt er der 
Schwerkraft entzogen. Die Schwingungen seiner Glieder 
setzen sich in den Linien seiner Titania fort und vereinen 
das Paar ebenso wie das nicht vom Mond kommende, son- 
dern gegenseitig aufeinander strahlende Licht der hellen 
Körper. Füsslis Art, diese nicht blutdurchpulst organisch, 
sondern schalenhaft abstrakt zu behandeln, passt zu den 
nächtlich schwärmenden Naturgeistern besser als zu 
menschlichen Helden. Auf dem Gegenstück, auf dem die 
verzauberte Titania den eselsköpfigen Webermeister Zettel 
karessiert, finden sich denn auch insektenhafte Misch- 
wesen, wie der geflügelte fliegenköpfige Tänzer im Vorder- 
grund, der den Elfenkönig parodiert. Sieht man die beiden 
Bilder zusammen, so rücken Oberon mit der zweiten 
Titania im Zustand der Abwendung in die Mitte; doch der 
Schwung, der vom tanzenden Paar unten über den 
schwarzdunklen Kobold rechts zur Lautenspielerin führt, 
das verwunschene Liebespaar umkreisend, leitet zur ersten 
Szene zurück, von den Blicken und Gesten der Hofdamen 
unterstützt. Im zyklischen Rücklauf mag nun dieses Bild 
auch zeigen, wie Oberon mit einer anderen Knospe der 
schlafenden Titania Augen von ihrem Wahn befreit und 
sich so die beiden männlichen und weiblichen Natur-
	        
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