Volltext: Jahresbericht 1993 (1993)

lung von Rüeggs vielseitigem zeichnerischen Können. Lite- 
ratur und Ausstellungen haben sich mit seinen Zeich- 
nungen nur am Rande beschäftigt°. Das Werkverzeichnis 
des Sohnes Ernst Rüegg zählt allein schon 360 Zeich- 
nungen und Aquarelle, davon 130 mit Landschafts- 
motiven. Sie stammen grösstenteils aus dem ihm zugefal- 
lenen Teil des Nachlasses. Die der Witwe überlassenen 
Werke auf Papier (Familienbesitz Hinwil) blieben leider 
unbearbeitet®, 
An dieser Stelle können, begleitend zur Inventarisie- 
rung, nur ein paar vorläufige Bemerkungen geäussert 
werden. Gleich vorweg: die für Rüeggs Malerei kennzeich- 
nende Trennung des offiziellen Teiles mit den typischen 
Landschaftsmotiven aus den Kantonen Zürich und Schaff- 
hausen von einem modernen, inoffiziellen, der nach dem 
letzten Krieg öfter mit Werken des Surrealismus, des 
Expressionismus und der Neuen Sachlichkeit in Zusam- 
menhang gebracht wurde”, lässt sıch auch bei den Zeich- 
nungen feststellen, wenngleich der inoffizielle Charakter 
der Zeichnungen und Aquarelle ein freieres Experimen- 
tieren mit modernen Stilelementen begünstigte. Mit 
Genuss verfolgt man hier die Verwandlung des Dichters in 
den Maler. Die allegorischen Motive des Frühwerks werden 
in den Zeichnungen der 1920er und 30er Jahre von einer 
zunehmend farbig-expressiven Auffassung der Land- 
schaftsmotive abgelöst. Der Schrecken, den der wilde 
Mann den arbeitsamen Bauern im Feld einjagte, teilt sich 
später unmittelbarer durch Farbkontraste mit. Wenn in 
den allegorischen Bildern Figuren in bestimmte Rollen 
schlüpfen mussten, um das Unheimliche, Namenlose, 
Andere der Natur zu verkörpern, so versteht es Rüegg in 
dem quadratisch zugeschnittenen Aquarell Vörfrühling bei 
Stadel um 1939 (Abb. 7) meisterhaft, das leise Weben der 
Natur über dem menschenleeren Bauerndorf in eine span- 
nungsreiche, transparente Farbigkeit aufzulösen?. Die 
Zweiteilung des Bildes ist hier nur angedeutet; die dumpfe 
verriegelte Wohnstatt der Menschen und die aus dem Frost 
erwachende Landschaft mit ihren kühlen Kontrasten, die 
sich in einer so unprätenziösen Malerei vielleicht nur dem 
vorüberziehenden, innerlich beteiligten Beobachter ent- 
hüllt, und auch diesem nicht auf den ersten Blick. 
Die Landschaftsaquarelle der dreissiger und frühen vier- 
ziger Jahre zeigen Rüegg von seiner besten Seite. Ein 
gewisser Expressionismus verbindet sich dort mit seinem 
Hang zu kühler Farbigkeit. Selten hat er seine Position zwi- 
schen Abstraktion und gegenständlicher Malerei so klar- 
sichtig formuliert wie in den ersten Sätzen des Artikels Die 
Landschaft im Kanton Zürich, wie sie ein Maler sieht von 1931. 
«Das Zürchergebiet, als farbiger Fleck in die Karte der 
Schweiz eingezeichnet, hat die ungefähre Form eines Qua- 
drates. Ziehen wir die Diagonalen, so entstehen vier Felder, 
vier Teile des Kantons, die in ihrer geographischen Struktur 
ganz verschieden voneinander sind. Im Nordfelde liegen 
das Weinland, das Rafzerfeld und das zürcherische Rhein- 
ufer von Langwiesen bis Kaiserstuhl; das Ostfeld enthält 
das Tösstal und die Berge des Oberlandes; das Südfeld ist 
das eigentliche Seegebiet; das Westfeld umfasst Wehntal, 
Limmattal und das Amt.»? In jedem dieser Felder erblickt 
Rüegg das «Gesicht» einer charakteristischen Landschaft. 
Die Vorliebe für das nördliche Feld mit den melancholi- 
schen Hügelzügen, den in die Ferne gerückten Dörfern an 
den Zuflüssen des Rheins schlägt sich in der grossartigen 
Aquarellvision Thurmündung in den Rhein‘? von 1936 nieder. 
Mit gelöstem Pinsel streicht der Maler die rötlichen Silber- 
schleier bis über den Blattrand hinaus. 
Landschaften zwischen farbigem Fleck und Quadrat? 
Rüegg studierte an der Dresdener Akademie, als Cuno 
Amiet seine neusten Bilder 1905 in der Galerie Richter aus- 
stellte. Amiet wurde Mitglied der im gleichen Jahr gegrün- 
deten «Brücke». Unter den Modernen Hodler, Amiet, Buri, 
Augusto und Giovanni Giacometti, die in der Villa von 
Richard Kissling am Zürichberg verkehrten, war Rüegg als 
der schwärmerische «Eichendorff-Jüngling» bekannt. Sein 
Verhältnis zur expressionistischen Farbe hat sich erst spät 
und, ähnlich wie sein Hang zur surrealen Phantastik der 
Kriegsjahre, mehr im Verborgenen entfaltet. 
Deshalb erscheint es uns angebracht, das Aquarell 
Das rote Bauernhaus“ von 1943/45 (Abb. 6) in die künstle- 
risch produktiven Krisenjahre des Spätwerks zu datieren. 
Gemälde wie Zweidlen von 1942, Scheue Tiere nähern sich dem 
entvölkerten Dorfe von 1943/45, im übertragenen Sinn auch 
Schweizers Bild von 1942 bringen die Einsamkeit und Fremd- 
heit des alternden Malers im eigenen Land zum Ausdruck. 
Im Mittelpunkt dieser Kompositionen steht das verlassene 
Haus und die Wunschlandschaft der Jugendjahre. Das 
Aquarell verstärkt diesen Eindruck noch, indem es auf
	        
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