Volltext: Jahresbericht 1993 (1993)

ÄLBERTO GIACOMETTIS MEISTERSTÜCK 
In Giacomettis Lebenswerk gibt es zwei rätselhafte Peri- 
oden, in denen er zwar intensiv arbeitete, aber kaum zu 
Resultaten, die er gelten liess, gelangte. Die spätere, längere 
dieser Inkubationszeiten trennt sein surrealistisches von 
dem reifen Werk; die frühere, weniger beachtete, liegt zwi- 
schen dem jugendlich traumsicheren Frühwerk und der 
Teilnahme an den Avantgarde-Bewegungen. Es ist die 
eigentliche Lehrzeit als Bildhauer in der Academie de la 
Grande-Chaumiere bei Antoine Bourdelle von 1922 bis 
1925, aus der uns aus eigener Anschauung nur eine einzige 
Skulptur, der in der Ausstellung Lz Mamma a Stampa 
gezeigte Kopf der Mutter von ca. 1924, bekannt ist. In der 
Stiftung ist diese Zeit mit einer gemalten und etlichen 
gezeichneten Aktfiguren vertreten; sie zeigen ebenso wie 
zwei Selbstbildnis-Skizzen in sehr begabter Durchführung 
eine facettierende Zerlegung der lebendig organisch gerun- 
deten Form in geometrisierende Flächenpartikel, eine 
Manier, die in den Kunstakademien der Renaissance 
aufkam und deren funktionaler Sinn bereits aus den alt- 
ägyptischen Bildhauerwerkmodellen deutlich wird. Auch 
wenn bei Giacometti wohl zugleich eine Einwirkung der 
ersten Phase des analytischen Kubismus wirksam ist, eignet 
all diesen Arbeiten doch etwas Etüdenhaftes, das auf die 
Perfektionierung der handwerklichen Fähigkeiten zielt. 
Und diese Vollendung hat er in diesen Jahren auch erreicht, 
wie sein ganzes plastisches Werk erweist: schon allein 
durch ihre professionelle Präzision ragen seine Skulpturen 
aus dem bastelfreudigen Jahrhundert voller «Maler- 
Skulptur» heraus. 
Doch wie kam Giacometti von diesen brillanten Etüden 
zur Kunst? Abrupt stehen der aus drei geometrisierenden 
Körpern gefügte Torse von 1925, das anschliessende Couple 
im «style negre» und als erstes Hauptwerk die hieratisch 
ragende Femme-cuiller vor uns — nun tritt als Neuerwerbung 
ein Selbstbildnis-Kopf vermittelnd dazwischen, eine 
unmittelbar vor diesen abstrahierenden Gebilden entstan- 
dene, traditionell figürliche Portraitplastik: sie will uns als 
nichts weniger erscheinen denn als Albertos erstes Meister- 
werk ım Sinne des alten zünftigen Meisterstückes: das 
Werk, in dem der Geselle oder Meisterschüler die Beherr- 
schung der Lehrstücke der Kunst in einer klassischen Auf- 
gabe vorführt und zugleich spüren lässt, dass er zu deren 
eigenständigen Entwicklung fähig ist und sich damit selbst 
als Meister erweist. Das Verbleiben in den traditionellen 
Bedingungen der Gattung ergeben sich ebenso aus diesem 
spezielle Werkcharakter wie das bewusste Ausarbeiten der 
«Lehrstücke» zu modellhafter Prägnanz. Dass der Gegen- 
stand dessen, was wir also als Meisterstück betrachten 
möchten, der Kopf des angehenden Meisters selbst ist, 
scheint für den Anlass sehr passend, denn es handelt sich ja 
um einen entscheidenden Schritt vor allem für den Betref- 
fenden selbst. 
Plastische Selbstbildnisse sind an sich eher etwas Unge- 
wöhnliches; Giacometti mag an seine ältere Praxis als Maler 
gedacht haben, vielleicht auch an die spätmittelalterlichen 
Steinmetzen-Tradition von Peter Parler bis Adam Kraft, die 
sich als dienend schaffende Werkmeister ihren dem Lobe 
Gottes geweihten Meisterwerken einverleibten. Den sou- 
veränen Bildhauer-Künstlern seit der Renaissance ent- 
sprach solches kaum mehr; Michelangelo etwa malte sich 
in der abgezogenen Haut des Bartholomäus des Jüngsten 
Gerichtes, und auch Bernini griff zum Pinsel und nicht 
zum Meissel für seine Selbstdarstellung. Auch Giacometti 
hat kein weiteres dreidimensionales Selbstportrait ge- 
schaffen, wenn wir von ganz andersartigen abstrakt-symbo- 
lischen Andeutungen absehen. Es hängt offensichtlich 
zentral mit dem künstlerischen Charakter von Skulptur 
zusammen, dass diese Gattung weitgehend fehlt: die Selbst- 
wahrnehmung ist nur über den Spiegel möglich; dieser 
aber zeigt keine Skulptur, sondern ein virtuelles Bild in 
einem virtuellen Raum. Giovanni Giacometti hat in dem 
Gemälde Lo scultore in unübertrefflicher Prägnanz die inten- 
sive, dreidimensionale Aneignung der Modelle durch den 
Bildhauer Alberto dargestellt: solches visuelles Abtasten 
des eigenen Kopfes ermöglicht der Spiegel nicht. Bei seiner 
Selbstbildnis-Skulptur mag das technische Problem für
	        
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