ÄLBERTO GIACOMETTIS MEISTERSTÜCK
In Giacomettis Lebenswerk gibt es zwei rätselhafte Peri-
oden, in denen er zwar intensiv arbeitete, aber kaum zu
Resultaten, die er gelten liess, gelangte. Die spätere, längere
dieser Inkubationszeiten trennt sein surrealistisches von
dem reifen Werk; die frühere, weniger beachtete, liegt zwi-
schen dem jugendlich traumsicheren Frühwerk und der
Teilnahme an den Avantgarde-Bewegungen. Es ist die
eigentliche Lehrzeit als Bildhauer in der Academie de la
Grande-Chaumiere bei Antoine Bourdelle von 1922 bis
1925, aus der uns aus eigener Anschauung nur eine einzige
Skulptur, der in der Ausstellung Lz Mamma a Stampa
gezeigte Kopf der Mutter von ca. 1924, bekannt ist. In der
Stiftung ist diese Zeit mit einer gemalten und etlichen
gezeichneten Aktfiguren vertreten; sie zeigen ebenso wie
zwei Selbstbildnis-Skizzen in sehr begabter Durchführung
eine facettierende Zerlegung der lebendig organisch gerun-
deten Form in geometrisierende Flächenpartikel, eine
Manier, die in den Kunstakademien der Renaissance
aufkam und deren funktionaler Sinn bereits aus den alt-
ägyptischen Bildhauerwerkmodellen deutlich wird. Auch
wenn bei Giacometti wohl zugleich eine Einwirkung der
ersten Phase des analytischen Kubismus wirksam ist, eignet
all diesen Arbeiten doch etwas Etüdenhaftes, das auf die
Perfektionierung der handwerklichen Fähigkeiten zielt.
Und diese Vollendung hat er in diesen Jahren auch erreicht,
wie sein ganzes plastisches Werk erweist: schon allein
durch ihre professionelle Präzision ragen seine Skulpturen
aus dem bastelfreudigen Jahrhundert voller «Maler-
Skulptur» heraus.
Doch wie kam Giacometti von diesen brillanten Etüden
zur Kunst? Abrupt stehen der aus drei geometrisierenden
Körpern gefügte Torse von 1925, das anschliessende Couple
im «style negre» und als erstes Hauptwerk die hieratisch
ragende Femme-cuiller vor uns — nun tritt als Neuerwerbung
ein Selbstbildnis-Kopf vermittelnd dazwischen, eine
unmittelbar vor diesen abstrahierenden Gebilden entstan-
dene, traditionell figürliche Portraitplastik: sie will uns als
nichts weniger erscheinen denn als Albertos erstes Meister-
werk ım Sinne des alten zünftigen Meisterstückes: das
Werk, in dem der Geselle oder Meisterschüler die Beherr-
schung der Lehrstücke der Kunst in einer klassischen Auf-
gabe vorführt und zugleich spüren lässt, dass er zu deren
eigenständigen Entwicklung fähig ist und sich damit selbst
als Meister erweist. Das Verbleiben in den traditionellen
Bedingungen der Gattung ergeben sich ebenso aus diesem
spezielle Werkcharakter wie das bewusste Ausarbeiten der
«Lehrstücke» zu modellhafter Prägnanz. Dass der Gegen-
stand dessen, was wir also als Meisterstück betrachten
möchten, der Kopf des angehenden Meisters selbst ist,
scheint für den Anlass sehr passend, denn es handelt sich ja
um einen entscheidenden Schritt vor allem für den Betref-
fenden selbst.
Plastische Selbstbildnisse sind an sich eher etwas Unge-
wöhnliches; Giacometti mag an seine ältere Praxis als Maler
gedacht haben, vielleicht auch an die spätmittelalterlichen
Steinmetzen-Tradition von Peter Parler bis Adam Kraft, die
sich als dienend schaffende Werkmeister ihren dem Lobe
Gottes geweihten Meisterwerken einverleibten. Den sou-
veränen Bildhauer-Künstlern seit der Renaissance ent-
sprach solches kaum mehr; Michelangelo etwa malte sich
in der abgezogenen Haut des Bartholomäus des Jüngsten
Gerichtes, und auch Bernini griff zum Pinsel und nicht
zum Meissel für seine Selbstdarstellung. Auch Giacometti
hat kein weiteres dreidimensionales Selbstportrait ge-
schaffen, wenn wir von ganz andersartigen abstrakt-symbo-
lischen Andeutungen absehen. Es hängt offensichtlich
zentral mit dem künstlerischen Charakter von Skulptur
zusammen, dass diese Gattung weitgehend fehlt: die Selbst-
wahrnehmung ist nur über den Spiegel möglich; dieser
aber zeigt keine Skulptur, sondern ein virtuelles Bild in
einem virtuellen Raum. Giovanni Giacometti hat in dem
Gemälde Lo scultore in unübertrefflicher Prägnanz die inten-
sive, dreidimensionale Aneignung der Modelle durch den
Bildhauer Alberto dargestellt: solches visuelles Abtasten
des eigenen Kopfes ermöglicht der Spiegel nicht. Bei seiner
Selbstbildnis-Skulptur mag das technische Problem für