war, liess er sich Ende 1766 einen Pass nach St. Petersburg
geben, wo Katharina II. Künstler zu vorteilhaften Bedin-
gungen anwarb. Doch bereits in Warschau nahm ihn der
neue König Stanislaus August Poniatowski in seine Dien-
ste: hatte er sich hier gar mit der Zürcher Replik der
Ruinen der Kreuzkirche eingeführt!?? In diesem noch völlig
dynastisch denkenden Jahrhundert, dessen politische Ge-
schichte von Erbfolgekriegen beherrscht wurde, konnte
für den neu gewählten König dieses Monument des Nie-
derganges der vor ihm regierenden Dynastie nicht ohne
beziehungsreiche, legitimierende Bedeutung gewesen
sein. Und während in der Dresdener Fassung das kühle
Morgenlicht vor der düsteren Wolkenbank die Aufhel-
lung nach einem Unwetter evoziert, ruht nun mit der
Abendröte eine Stimmung nostalgischer Vergänglichkeit
über der Unglücksstätte. Durch zahlreiche rosa Retou-
chen - besonders sichtbar etwa an den Kaminen des mitt-
leren Palais - akzentuierte Bellotto diese atmosphärische
Verschiebung ın der letzten Arbeitsphase sehr fühlbar.
Hat hier Bellotto bewusst die Aussage von der tätigen
Überwindung des Zusammenbruchs durch den Wieder-
aufbau zu einem Abschiednehmen von zerfallenden Rui-
nen verschoben und so auf den neuen Adressaten abge-
stimmt? Bei der extremen Schärfe der künstlerischen
Durchdringung des Gegenstandes bis in die letzten Ein-
zelheiten, wie sie Bellotto gerade auch in diesen beiden
Bildern vorexerziert, halten wir dies nicht für ausge-
schlossen.
Rätselhafter wird es, wenn wir nun abschliessend den
Blick noch über Bellottos Zeit auf frühere und spätere
Ruinenbilder werfen. Das grosse Paradigma einer Bau-
ruine - eines Gebäudes, bei dem Aufbau und Untergang
bruchlos ineinander übergehen, - bietet der Babylonische
Turm. Pieter Brueghels Darstellung bestimmt bis heute
die bildliche Vorstellung dieses Mythos von Hybris und
Scheitern von Mensch und Stadt. Auch in der Dresdener
Galerie ist diese Tradition mit einem volkreichen Gemäl-
de Maerten van Valckenborchs eindrücklich vertreten,
und dieses zeigt nun trotz einer ganz anderen Stilhaltung
bis in beiläufige Details merkwürdige Übereinstimmun-
gen mit Bellotto: so behauen auch hier rechts Steinmetze
ihre Blöcke unter einem ähnlichen Schutzdach, während
sich links Erdarbeiter mit Gerüsten in die Tiefe graben;
und wo Nebukadnezar seinem Gefolge den Turm weist,
stehen nun zwei Kleriker und disputieren wohl über den
höheren Sinn des ausserordentlichen Geschehens. Zufall?
— oder hat hier der anscheinend so exakte Bildberichter-
statter die Tatsachen nach dem alten Vorbild zurecht-
gerückt“? Und wiederum malte in Dresden in ganz ande-
rer Weise ein Künstler frontal mitten im Bild eine
hochaufragende Kirchenruine, durch deren leere Fenster
der Himmel über einer düsteren Nebelbank blickt: Cas-
par David Friedrich kann das Bild Bellottos nicht überse
hen haben*!. Höherer Zufall mag es schliesslich sein, dass
nun im Kunsthaus Zürich diese alte Darstellung der Zer-
störung Dresdens mit jener neuen Gestaltung zusammen-
trifft, in der Baselitz dem Untergang der Stadt 1945 ein
Monument gesetzt hat.
Christian Klemm
Anmerkungen
Vgl. Horst Günther: Das Erdbeben von Lissabon erschüttert die Meinungen und setzt
das Denken in Bewegung (Berlin 1994). Bezeichnenderweise galten die Ruinen der
Pirnaer Vorstadt (vgl.unten) bis vor kurzem als Darstellung des Erdbebens von
Lissabon.
Johann Wolfgang Goethe: Dichtung und Wahrheit, 2. Teil, 8. Buch. Bereits von
Hellmuth Allwill Fritzsche: Bernardo Belotto genannt Canaletto (Burg bei Mag
deburg 1936, S. 72) zitiert, aber ohne den im folgenden beschriebenen Zusam
menhang zu bemerken.
Das durch Tausch aus dem Vermächtnis Betty Koetser erworbene Gemälde deı
Stiftung Betty und David M.Koetser im Kunsthaus Zürich ist eine Replik des
Gemäldes in der Gemäldegalerie Dresden, von dem es sich unterscheidet
durch die ganz andere atmosphärische Stimmung (vgl. unten), die Beifügung
einer Leiter vor dem Himmel auf dem Turm und die Beschriftung (das Dres-
dener Exemplar ist voll signiert und 1765 datiert, auf dem Zürcher Exemplar
jest man unten links: «Vue de la Tour de S'“ Croix,/qui s’ecroula le 22 Juin
1765, dans/le tems qu’on commencoit a relever l’E/glise, laquelle avoit peri
ar le Bombardement/de 1a Ville de Dresden, en 1760 1. la Place du
Vieux/Marche. 2. Ecole de S* Croix. 3. Palais du C. Rutowski». Die Inschrift
entspricht bis auf den kuriosen Zeilenfall in «Eglise» dem Text auf der eigen
aändigen Radierung nach der Komposition, gekürzt und um die Identifizie:
ung der Gebäude ergänzt: Hinweis auf einen späteren Plattenzustand ohne
die Widmung an die Kurfürstin?). Die beiden Fassungen waren ursprünglich
wohl gleich gross; heute ist die Zürcher durch Aufklappen des oberen (1,5 cm)
und unteren (2 cm) Randstreifens höher, während sie seitlich etwas beschnit-
:en (rechts minim, links ca. 3 cm) erscheint, eine Änderung, die wohl bis in
die Zeit Bellottos zurückreicht, da die aufgemalten alten Inventarnummern
rechts teilweise in der Anstückung liegen. Erworben an der Auktion 7he Estate
of Peter Jay Sharp (Sotheby’s New York, 13. Januar 1994, lot 75), im Katalog
Zusammenstellung der Herkunft (vgl. auch Anm. 19) und der Literatur nach
Kozakiewicz (wie Anm. 7. Nr. 298/299). geringfügig ergänzt. Die historischer