Volltext: Jahresbericht 1997 (1997)

HERMANN SCHERER 
TOTENKLAGE 
Es gibt Künstler, denen das grosse Hauptwerk gelingt, 
die Arbeit, die die wesentlichen Aussagen ihres (Euvres 
zusammenfasst und in die zwingende, unvergessliche 
Gestalt giesst. Wo formale Fragen dominieren, wie bei 
den Impressionisten oder Konkreten, wird man es 
vergeblich suchen; eine existentielle Dimension, wie 
in Hodlers «Nacht» oder Kokoschkas «Windsbraut» ist 
dafür notwendig. Es ist ein grosses Glück für ein 
Museum, ein solches Werk erwerben zu können; dank 
der Vereinigung Zürcher Kunstfreunde und des Neffen 
des Künstlers ist dies mit Hermann Scherers «Toten- 
<lage» gelungen. 
Die Lebenskurve Hermann Scherers (Rümmingen 
1893 - Basel 1927) zeigt einen langsamen, mühseligen 
Aufstieg, eine kurze, von hektischem Schaffen erfüllte 
Blütezeit und einen frühen, schmerzlichen, sich über 
viele Monate hinziehenden Todeskampf. In ärmlichen, 
x<leinbäuerlichen Verhältnissen im unteren Kandertal 
geboren, verliert der Siebenjährige seine Mutter. Die 
Möglichkeit, in einer Grabstein-Werkstatt in Lörrach 
eine Steinmetz-Lehre anzutreten, bedeutet einen ersten 
Schritt aus der Enge. Dank seinem handwerklichen 
Können findet er Arbeit auf Baustellen im nahen Basel 
and als Gehilfe bei Bildhauern, für die er die Modelle 
aus dem Stein schlägt: es ist das berufsspezifische 
Schicksal des «Practicien», der neben dem mühsamen 
Broterwerb trotz der Förderung durch den Meister kaum 
zu seiner eigenen Kunst kommt. Immerhin überlebt er 
in der Schweiz ungeschoren den Krieg, der ihn seiner 
deutschen Heimat entfremdet. Von 1918 bis 1921 führt er 
die monumentalen Brunnenfiguren Carl Burckhardts 
vor dem Badischen Bahnhof aus; der regelmässige Lohn 
»rmöglicht es ihm, in einem eigenen Atelier zu arbeiten, 
das bald zum Treffpunkt eines kleinen Kreises progres- 
siver Künstler, Architekten und Intellektueller wird. Die 
Ablösung von Burckhardt, dessen aus dem Jugendstil 
herausgewachsenes Werk sein eigenes Arbeiten 
bestimmte, lässt nicht auf sich warten; ım Herbst 192] 
zerstört er den Grossteil seiner bisherigen Produktion. 
Zum selbständigen Künstler geworden, sucht Scherer 
mit Macht von der dekorativen Glätte zur existentiellen 
Wucht eines expressiven Stiles zu kommen. In der ersten 
Phase dominieren die Vorbilder Lehmbrucks und Ro- 
dins, ersterer für die vor allem durch die Graphik rezi- 
pierte, leidvolle Thematik, letzterer für die erregt zerklüf- 
tete plastische Gestaltung. Das Hauptwerk dieser Phase 
ist der Entwurf zu einer sich unter dem Schrecken deı 
Endzeit wild aufbäumenden, künstlerisch kaum bewäl- 
tigten Menschengruppe; eindrücklich bleibt die dazu 
gehörende grosse Figur eines Gestürzten ın der räum: 
lichen Organisation ihrer Glieder, während die Suche 
nach einer neuen plastischen Form in der Auflösung des 
organischen Zusammenhangs auf halbem Wege stecken 
bleibt. 
Das ideal geglättete, in sich geschlossene Menschen 
bild, wie es, wenn auch bereits modern verformt, auch 
Carl Burckhardt noch pflegte, sollte aufgebrochen, zer 
stört werden, um den elenden humanen Kern der unter 
der zermalmenden Gewalt der schrecklichen Zeit lei 
denden Kreatur sichtbar zu machen. Es ist das typische 
Pathos der Kriegs- und Nachkriegszeit, der die erotisch 
vitalistischen Spannungen des frühen Expressionismus 
ablöste. Offensichtlich gelang dies Scherer zunächst 
nicht, und so wandte er sich unter dem Eindruck deı 
grossen Munch-Ausstellung im Kunsthaus Zürich deı 
Malerei zu: in einem Selbstbildnis in dessen spätem Stil 
sitzt er niedergeschlagen in der ihm eigenen Dumpfheit 
vor seinem «Gestürzten». Noch wichtiger wurde für ihn 
die Ausstellung Ernst Ludwig Kirchners im Frühsommer 
1923, bei der er dem Künstler beim Einrichten in deı 
Basler Kunsthalle half. Zum Dank lud ihn dieser nach 
Davos ein, wo er seit 1918 lebte. Hier lernte Scherer das 
Zeichnen als Ausgangspunkt aller künstlerischen Arbeit 
kennen und eignete sich zeichnend und malend die 
Landschaft an. Erst bei seinem zweiten Aufenthalt nach 
den Weihnachtstagen führte ihn Kirchner in das Schnit:
	        
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