Volltext: Jahresbericht 2002 (2002)

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vera nlas sten Alberto zur Aus einander setzung mit der 
Gattung und machten ihn zugl eich mit dem Gips oder 
dem verwandten «stuff», der dama ls gern für dekora- 
tive Elemente verwendet wur de, als finales künstleri- 
sches Ma terial vertraut. 
Das Stillleben-Relief gehört aber nicht in den 
Zusa mmenha ng dies er Brotarbeiten, so ndern in den 
der autonomen Kunstwerke – und dies sogar in einem 
pointierten Sinne: bildet es doch die Antwort auf 
«Table surréaliste», jenes eigenartige M öbel, das Gia- 
cometti 1933 aus disparaten Elementen für eine Sur- 
realisten-Ausstellung zusammenstellte. «Objets» war 
deren Thema – und genau dies war der Punkt, an dem 
G ia comettis Problem mit den Surrealisten aufbrach. 
Diese wünschten sich «objets» , Dinge, all enfa lls – 
nach dem Pa radigma von Giacom etti s «Boule suspen- 
due» – «objets à fonction symbolique», «Dinge zum 
geistigen Gebrauch», wie Bill adapti e rte. Gegenstände 
stellte Giaco metti für den Innenausstatter Frank her, 
wie wir gesehen haben , Kunstwerke aber sollten 
etwas anderes sein, Ausdruck s eines Fühlens und 
Denkens, nicht tote Objekte, sondern Evokationen 
lebender Präsenz. In «Table surréaliste» werden 
se lbst Teile des Me nschen zu D ingen, der Kopf zur 
Schaufensterpuppe, die Hand zur Prothese, das Ganze 
aber zum ir onisch gestalteten dreidimensionalen 
Stillleben. Eine Zeichnung, bildhaft vollendet wie ein 
Kupferstich, entwickelt die Motive dies er «Table» wei- 
ter und macht den Z usamm enhang mit dem Re lief 
noch deutlicher: hier treten die Teile so zusammen, 
dass das Phantom einer Frau 
entsteht.9 Der 
Tisch, 
zugl eich der Unterleib, wird durch einen nach innen 
steil fliehe nden, hinte n offene n Würfe l gebildet, einem 
E ngadiner Fenster nicht unähnlich. 
Im Stillleben-Relief unterzieht Giaco metti dieses 
surrealistische O bjekt einer kri tischen Meta morpho- 
se. Der Tisch mit seinen vier schiefe n, von Magritte 
entlehnten Beinen weicht dem s c hlichten, aus fünf 
Br ettern gezimmerte n Gestell, das im Pariser Ate lier 
als Nachttisch 
diente;1 0 in 
s einer Wiedergabe klingt 
das widersprüchliche pe rspektivische Kon strukt der 
Zeichnung nach, wobei der natürlichen Tiefe n-Ambi- 
valenz der genau auf der Höhe des Horizontes liegen- 
den Deckplatte besondere Bedeutung zuk ommt, wie 
wir noch sehen werden. Statt Requisiten aus der Mode- 
welt lie gen auf dem unteren Schaft die wesentlichen 
Dinge des Lebe ns und des Künstlers: ein Wasserglas, 
ein Apfel, Stift e, ein Buch in locker gleichmässiger Fol- 
ge nebeneinander – fast wird man an die Stillleben 
Sanchez Cotans erin nert – und evozieren eine Kurv e, in 
deren Brennpunkt die kleine Büste erscheint. Sie befin- 
det sich allein auf einer höheren Ebe ne, über den 
Gegenständen des alltäglichen Gebrauchs, und noch- 
mals durch einen Sockel von dem Kästchen abge ho- 
ben, das sich als Ganz es wie eine übergrosse Basis zu 
diesem verhält: ähn liche Proportionen wird Alberto 
bald in seinen Miniatur-Skulpturen einsetzen. 
Die kl eine Büste tritt an die Stelle der Schaufens- 
terpuppe, des Ma necchino der Pittura me tafisica: sie 
strahlt im Gegensatz zum leblosen Ding, zum objekt- 
haften Versatzstück die Präs enz des Menschen aus. 
Bereits deutlicher als in den gleichzeitigen vollplasti- 
schen Arbeiten vermag sich hier Alberto dem Ziel sei- 
ner künstlerischen Suche zu nähern. Die Ei nbindung 
in einen grösseren Zus amme nhang erl eichtert ihm die 
V erkl e inerung und in dies er eine auf das Wesentliche 
k onzentrierte Grossformigkeit, die er erst ein paar 
Jahre spät er in der «Femme au chariot» vo llrund rea- 
l isiert. Auch das Erscheinungs hafte, das er dort durch 
die virtuelle Bew egung des tragenden W agens meta- 
phorisch verdeutlichen wird, beginnt sich ber eits hier 
durch die Frontalität, den Strahl e nkranz des Haares 
und die atmende Ambivalenz des Ra umbezugs gelte nd 
zu machen. Die unteren Bretter des Gestells aktivieren 
mit ihrer betont en Perspektive die Tiefe nwahrne h- 
mung und fokussieren sie in der Achse der Skulptur . 
Da aber die P latte genau auf A ugenhöhe liegt, lässt 
sich der Ort der Figur in der Tiefe nicht fixieren: bald 
scheint sie nach vorn zu gleiten, bald in den ebenfalls 
ambivalenten Grund einzusinken, der hier kaum 
merklich sanft zurückweicht und damit den Effek t ver- 
s tärkt. 
Man könnte in der Interpretation noch einen 
Schri tt weiter gehen und an dies er Stelle einen Wech-
	        
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