Volltext: Jahresbericht 2002 (2002)

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ZEITSCHRIFTEN DER SURREALISTISCHEN 
BEWEGUNG 
Zeitschri fte n werden von der Kunstges c hichte auf- 
grund der grossen Auflage, der koll ektive n Autorschaft 
und der technisch oft anspruchlosen Ausführung gern 
geri ng geschätzt. In der avantgardistischen T radition 
spielt en sie indes stets eine zentrale Rolle: Hier ver- 
schränkten sich (meist in ihrer e rstma ligen Artikula- 
tion) die formalästhetischen und die theoretischen 
I n tentionen der jeweiligen Gruppierungen. Ganz 
besonders zentra l waren Zeitschr iften für Bew egun- 
gen, in denen sich bildnerische mit literarischen Inte- 
ressen verquickten. Daher ist es sehr erfr eulich, dass 
unsere Samm lung dadaistischer Publikationen, z.T. 
mit Hilfe des l eider im Berichtsjahr verstorbenen Hans 
Bolliger, durch die Anschaffung der von den dadaisti- 
schen Blättern zum Teil direkt abkünftigen Zeitschr if- 
ten aus dem Umf eld der surrealistischen Bew egung 
erwe itert werden konnte. 
«La Révolution Surréaliste» (Hg. Pierr e Naville, 
Benjamin Péret, Antonin Artaud, André Breton, 12 
Nummern von Dezember 1924 bis Dezember 1929) 
war das erste offizielle Organ der surrealistischen 
Bew egung. Konzipiert nach dem Mus ter einer natur- 
wissenschaftlichen Zeitschrift f indet sich hier nicht s 
vom grafischen Überschwang der dadaistischen 
Periodika. Der von dies en ererbte Sinn fürs Absurde 
zeigt sich all enfa lls in der Bildredaktion, die den politi- 
schen und dogmatischen Eifer in einer wilden und 
unsinnigen Lust an der Gegenübers te llung von U nver- 
einbar em k ont erkariert. Im Lauf der Jahre finden sich 
immer mehr Beiträge von den und über die Maler und 
Bildhauer im surrealistischen Umkreis. 
Die direkte Nachfolgepublikation der RS war «Le 
Surréalisme au Service de la R é volution» (Hg. André 
Breton, 6 A usgaben von Juli 1930 bis Mai 1933). 
Nachdem Breton mit dem zweite n Surrealistischen 
Manifest eine Reihe politischer und äs thetischer Dissi- 
de nten von der Bewegung entfr emdet hatte , war die 
Ze itschr ift Forum der ihm und der von ihm monopo li- 
s ierten Doktrin treu geblieben en Mitglieder, wobei 
sich die künstlerischen Beiträge oft kaum mehr mit 
Bretons politischen Diatriben in Beziehu ng s etzen las- 
sen. Die sechs Nu mmern enthalten Beiträge von Tris- 
tan T zara, Paul Éluard, Max Ernst, Marcel Duchamp, 
A lberto G ia cometti, Luis Buñuel , Man Ray u.a.m. 
In der Zwischenzeit hatte Georges Bataille die 
Ze itschr ift «Documents» gegründet (17 N ummern von 
1929 bis 1934). Bataille versammelte eine ganze Reihe 
von Autoren und Künstlern, die sich von Breton und der 
stalinistischen Linie des offiziellen Surr eal ismus 
abgewendet hatten. Die Z eitschr ift erwies sich für das 
spätere 20. J ahrhundert als wegweisend, was die 
gegenseitige Inspiration von Archäologie, Ethnogra- 
phie, Literaturtheorie und bildender Kunst angeht. 
M itarbeiter waren u.a. Robert Desnos, Marcel Mauss, 
Carl Einstein, André Malr aux, Michel Leiris. 
Die letzte und berühmteste der surrealistischen 
Ze itschr iften, «Minota ur e» (Hg. A lbert Skira und E. 
Teriade, 13 N ummern von Juni 1933 bis Mai 1939) 
versöhnt den Geist von «Doc ume nts» mit der nunme hr 
voll a usgebildete n surrealistischen Ik on ographie. Die 
relativ aufwendige Gestaltung und Ausstattung spie- 
geln aber auch das progressive embourgeoisement 
der s urre alis tischen Bewegung, ihr Aufgehen in einem 
gepflegten Mainstream-Modernismus, der im Paris 
der Vorkriegsjahre den vornehmen Ton angab. 
Tobia Be zzola
	        
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