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zigste Jahrhundert herübergerettet hatte und dessen höchste Lei
stung auf literarischem Gebiete dazumal fast nur aus seichten
Konversationsromanen bestand. Die heranwachsende junge Gene
ration mußte jeden noch so geringen Erfolg mit beispielloser Aus
dauer erkämpfen. Anno 1905 war hier der Naturalismus noch eine
Sache, die den Beweis ihrer Existenzberechtigung erst mühsam zu
erbringen hatte. Die Künstler, die sich um die Zeitschrift „Nyugat“
* gruppierten, waren beileibe nicht einheitlich orientiert: sie gehörten
den verschiedensten, für die damaligen ungarischen Verhältnisse
radikalen Richtungen an und waren nur in einem einig: im er
bitterten Kampfe gegen den Akademismus, der in Ungarn, wo die
sogenannte Wissenschaftliche Akademie jeder fortschrittlichen Be
strebung in Kunst und Wissenschaft ihr Veto entgegenstezte, auch
einen konkreten Sinn hatte. Wie sich also Naturalisten, Symbo
listen, Dekadenten usw. zum gemeinsamen Kampfe verbunden
hatten, so befanden sich denn in ihren Reihen außer der eigentlich
interessierten Generation ältere Künstler, die einen Sinn für die
Moderne bewahrt haben, sowie eine ganz kleine Avantgarde der
Jüngsten, gleichsam der linke Flügel der Nyugat-Bewegung, dem
hier ungefähr dieselbe Rolle zufiel, die das Proletariat in den bürger
lichen Revolutionen zu spielen pflegt. Zu diesem linken Flügel
gehörte auch Kassäk, dem seine markante Originalität rasch den
Weg bahnte. Sonst steht die erste Periode seiner künstlerischen
Tätigkeit durchwegs im Banne des Naturalismus. Allerdings nicht
des verfeinerten französischen, sondern des russischen Naturalismus,
dessen urwüchsige Kraft seiner Begabung erklärlicherweise am
nächsten lag. Seine Eigenart hat er wohl noch nicht gefunden, aber
er schuf außer einer Reihe von Novellen von erschütternder Wir
kung den Meisterroman des ungarischen Naturalismus: „Misillös
Königreich“ (1912). Eine Prosadichtung von überwältigender
Wucht, die selbst in den Literaturen anderer europäischer Länder
ihresgleichen suchen dürfte. Aber auch „Misillös Königreich“ ist
kein bloßer Roman mehr; in der mit machtvoller Sicherheit geschil
derten Hauptfigur, einem selbstsüchtigen, habgierigen, geizigen,
bodenhungrigen, tierisch-sinnlichen slowakischen Bauer, wird das
brennendste soziale Problem der Zeit aufgerollt und ein Charakter
entworfen, dem in den späteren sozialen Erschütterungen Ungarns
eine so verhängnisvolle Bedeutung beschieden war: Misillö brachte
die Diktatur des Proletariats mit seiner wirtschaftlichen Sabotage
zum Sturze, in seinem Namen und auf seinem Rücken wurde das
Regime des weißen Kurses errichtet. Die Dinge, die da kommen
sollten, warfen ihren Schatten voraus.
Um dieselbe Zeit fing Kassäk an, Gedichte zu schreiben, die
durchgehends in freier Form, in der rhythmischen Prosa Walt Whit-
mans verfaßt und aller konventionellen Fesseln entblößt waren. Dem
deutschen Leser von heute wird es etwas unglaublich klingen, daß
dies seinerzeit in Ungarn auch eine Art Revolution darstellte. Selbst
die Dichter des „Nyugat“ beobachteten zu dieser Zeit noch die