38
Jahresbericht 1942 der Zürcher Kunstgesellschaft
U
graphie, stets Wesentliches unterschlägt. Wenn der eine Schenkel für den Betrachter in
seiner «besten» Form sich darbietet ist der andere zur Nichtexistenz verkürzt; wenn der
Betrachter sich in die Formen und die Bewegung des Rückens vertieft, entgeht ihm die
Beredtheit von Brust und Schoß; und wenn er feststellt, wie sicher das Sitzen im Becken und
den Schenkeln gegeben ist, kann er erst, wenn er sich davon löst, das Spiel der Schultern,
das Stützen des linken und das Schweben des rechten Armes empfinden.
Die Figur existiert in allen ihren Formen und Spannungen zugleich. Sie lebt von innen
her nach allen Richtungen, in keinem Umriß ist sie ganz enthalten oder gibt sie sich ganz
aus, und der Beschauer kann sie als Ganzes, in ihrem Wesen, nur erkennen, wenn er um jede
Einzelheit und Teilansicht wohl sich bemüht, jedoch an keine sich heftet.
Tafel III Jakob Probst
Schweizertyp
Bronze 131X56X216 cm, bez.: PROBST
In einer größern Zahl von Werken vorher kaum zugänglich, wurde die künstlerische
Leistung von Jakob Probst für die Zürcher erst in der Ausstellung «Schweizer Bild-
hauer und Maler 1941» eigentlich erkennbar und lebendig. In seinen Angaben für das
schweizerische Künstlerarchiv schreibt der Bildhauer von sich selber: «Entstammt dem
Bauernstande». Um ihn von allfälligen bäuerlichen Befangenheiten frei zu machen
möchten die Studien in Paris bei Bourdelle, 7 Monate Aufenthalt in Italien und 4 Monate
in Aegypten ausgereicht haben. Seit 1932 lebt und arbeitet der Baselländer Bauernsohn
überdies in der verfeinerten Atmosphäre von Genf.
Glatt spannt sich an dem mehr als lebensgroßen «Schweizertyp>» die Haut über den
großen Formen von Körper, Kopf und Gliedern. Wenn Arbeiten anderer Bildhauer gelegent-
lich zur Betrachtung aus nächster Nähe, zum Abtasten einer von flimmerndem Licht reizvoll
belebten Oberfläche locken, so weist diese Figur nicht nur durch ihre maßstäbliche Größe
den Beschauer in Distanz. Sie will in einem Mal und als Ganzes gesehen sein. Eigentümlich
ist ihr bei aller Sicherheit der Statik eine ausgesprochene Raschheit und Einfachheit im
Fluß der Formen, die wir gern auf das Menschliche des dargestellten Mannes übertragen.
Es ist eine Art von Leichtigkeit in Kraft. Wenig hat die Figur mit Atelier-Luft und -Licht
zu tun. Sie ist auch keine «Museums-Plastik». Wie menschlich mit dem Bauernstand, ist
Probst künstlerisch mit dem Bauhandwerk und der Baukunst verbunden. Er hat als
Architekt begonnen und seither Figuren für öffentliche Bauten und Denkmäler für den
freien Raum geschaffen. Der «Schweizertyp>» ist nur in dem einen Guß vorhanden, den das
Zürcher Kunsthaus besitzt.
Tafel IV Karl Hügin
Komposition
Tempera auf Leinwand 220X110,5 cm, bez.: Hügin
Wenn das Bild von Corot eine komponierte klassische Landschaft ist, so komponiert
Karl Hügin mit menschlichen Gestalten und einer Bahnhof-Unterführung. Er rückt sie
aber nicht kühl an ihre Plätze wie die Figuren auf dem Schachbrett, sie dienen als Kom-
position wie einer formal-künstlerischen, auch einer einfach menschlichen Idee. Das Bild
ist in der vorliegenden Form 1941 in Bassersdorf entstanden, es geht aber im Keim auf die
Zeit zurück, da der Künstler an seinen zwei großen Wandbildern «Die christlichen oder
menschlichen Tugenden» und «Klage» im Genfer Völkerbundspalast arbeitete und auf
seinen Gängen hin und her oft den Bahnhof Cornavin durchqueren mußte. Eine vielleicht
zu einfache Version geht dahin, daß er als Andenken an die herbe Zugluft, die in der Unter-
führung stets ihn empfing, eine schwere Erkältung sich zugezogen, in den wehenden Gewän-
dern des Bildes sich aber mit der Situation auch künstlerisch auseinander gesetzt habe.
Hüein antwortet darauf weder ja noch nein und schreibt: «Ja, es ist richtig, die Idee zu