Full text: Jahresbericht 1976 (1976)

moralisierenden Absicht des Dichters; denn es ist 
schwer, unter diesen Demimondänen mit ihrem 
‚Air von ungenutzter Koketterie ... und unwill- 
kürlicher Melancholie>31 den Gegensatz von 
(Folly> und <«Innocence> wahrzunehmen.» Andere 
Bilder, die auf Cowper zurückgehen, zeigen des 
Dichters Vorgehen gegen soziale Ungerechtigkeit, 
wie « Der gerächte Neger» (Schiff 1233), dem das 
Gedicht 7he Negro's Complaint zugrunde liegt. 
Das Gemälde «Das Gefängnis» leitet sein Thema 
vom V. Buch von The Task her. Der Gegenstand 
dieses Gedichtabschnittes entwickelt sich von der 
Betrachtung eines frostigen Wintermorgens zu 
ainer Abhandlung über Sklaverei und Freiheit®?. 
Die politischen Aspekte dieses Buches bewegen 
sich innerhalb von Vergleichen britischer und 
französischer Loyalität, der Monarchenrolle und 
der Elenden — dargestellt durch die Bastille (fünf 
Jahre vor ihrem Fall) — bis zu einer philosophischen 
Vorstellung geistiger Freiheit, erlangt vom Men- 
schen durch Gottes Gnaden. Die Zeilen, die Füssli 
für seine Illustrationen gewählt hat (774-778), 
n1andeln vom Streben nach Freiheit, das der ge- 
samten Menschheit zugrunde liegt, und der letzten 
Befreiung von Seele und Geist: 
Th’oppressor holds 
His body bound; but knows not what a range 
His spirit takes, unconscious of a chain; 
And that to bind him Is a vain attempt 
Whom God deliahts in. and in whom he dwells33 
In der linken unteren Ecke des Gemäldes lehnen 
sich ein Mann und eine Frau — Personifikationen 
des menschlichen Geistes —, in einer dunklen Zelle 
zurück. Sie haben die Arme anmutig umeinander 
gelegt. Der Mann schläft, aber die Frau ist von einer 
ätherischen Vision aufgeweckt worden. In der 
oberen Hälfte des Bildes erscheint vor ihr eine 
grosse weibliche Figur in aufleuchtendem Licht. Sie 
ist bekleidet mit einem langen, durchsichtigen, 
wallenden Gewand, und ein Schleier fliesst hinter 
ihrem Körper hervor. Auch ihr Haar ist lang und 
wogend; es erwidert in seinem gleitenden Fallen 
die Aufwärtsbewegung der Arme. Dieser Geist der 
Freiheit blickt gütig auf die eingekerkerte Frau, 
während ein Wächter, dessen kräftiger Rücken durch 
das silberne Mondlicht hervorgehoben wird, im 
Hintergrund schläft. In weiter Ferne kann man ein 
schweres Eisengitter sehen, von dem wir wissen, 
dass es sich bald öffnen muss, da die Eingekerkerten 
ihrer Gefangenschaft entrinnen werden. Diese 
nächtliche Erscheinung des Geists der Freiheit 
zusammen mit dem Motiv des schlafenden Soldaten 
und dem Gitter erinnert an Raffaels Fresko der 
«Befreiung Petri» in der Stanza d’Eliodoro im 
Vatikan34 
«Die Erscheinung» ist ein beliebtes Thema für 
Füsslis reiche und unkonventionelle Einbildungs- 
kraft. Die Nachtmahr- und Phantasiethemen aus der 
Literatur, der englischen und deutschen Legende 
ader jene, die er selbst erfunden hat, liefern per- 
fekten Stoff für das Malen von Geistererscheinungen, 
Feen oder Dämonen. Die vielleicht engste Parallele 
jedoch, die unter diesem Aspekt zu dem «Gefängnis» 
gefunden werden kann, ist die Darstellung einer 
Szene aus der klassischen Antike. In einem früheren 
Werk « Der Traum des Sokrates» (Schiff 802, 
Abb. 5) liegt der eingekerkerte Philosoph in seiner 
Zelle, während sich ihm von oben ein Geist nähert. 
Wiederum verheisst der Geist der Freiheit dem 
eingesperrten Opfer die Freiheit. In diesem Fall 
jedoch — Sokrates trinkt den schicksalserfüllenden 
Schierlingsbecher — wird die unvermeidliche Freiheit 
der Seele durch den Tod erreicht. Die Ähnlichkeiten 
zwischen den beiden Gemälden sind verblüffend, 
wie es auch die Beziehung beider zu Raffaels Fresko 
ist. So sehen wir in einer Illustration zu einem Werk 
zeitgenössischer Literatur — im Bild «Das Ge- 
fängnis» — die Wiederholung sowohl eines 
philosophischen Themas (Freiheit) als auch einer 
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