Volltext: Jahresbericht 1987 (1987)

bögen steht darüber ‘Höchsten Heiles Wunder, Erlösung 
dem Erlöser’' zu lesen. Mit den zusätzlichen Inschriften 
Parsifal und Amfortas werden, in Abwesenheit mensch- 
licher Handlungsträger, mythische Orte und Helden 
evoziert, die die rote Farbe zu «Blut» gerinnen lassen, die 
Waschschüssel zur «Reliquie des lebendigen, lichtspen- 
denden Blutes des Gekreuzigten im Wunder des hl. Gral. 
Parsifal, der reine Tor, der Heilung bringt, Amfortas, der 
sündige König, der an der Wunde leidet, sie werden durch 
die Schlussverse von Richard Wagners Bühnenweihfest- 
spiel, in dem er den höchsten Mysterien des christlichen 
Glaubens Gestalt geben wollte, in uns aktiv. Und damit 
auch das Wissen um das Auseinanderfallen der Vorstellung 
des erlittenen Kreuztodes als Vorbild und der losgelösten 
Wunde als theatralischer Diskurs über das Leiden, das nicht 
mehr selbst erlebt. sondern symbolisiert wird.»3 
Ist uns Heutigen die Grals-Thematik vor allem durch die 
Überlieferung (und Interpretation) in Richard Wagners 
Opern gegenwärtig, so bezog sich der grosse Komponist 
seinerseits bereits auf verschiedene Überlieferungen der 
Sage, wonach der Gral «ein geheimnisvoller, heiliger Gegen- 
stand [ist], der seinem Besitzer irdisches und himmlisches 
Glück verleiht, den aber nur der Reine, dazu Vorherbe- 
stimmte finden kann».* In der deutschen Fassung von 
Wolfram von Eschenbach ist der Gral ein Stein mit 
wunderbaren Kräften, der auf einer einsamen Burg aufbe- 
wahrt wird, die nur Auserwählte finden. Der Ritterorden 
der Tempelherren diente ihm unter der Herrschaft des 
Grals-Königs. Zugleich ist der Gral auch die Schüssel des 
Abendmahls, in der Joseph von Arimathia Christi Blut am 
Kreuz aufgefangen haben soll. Die «Mehrdeutigkeit» der 
Grals-Symbolik in der mittelalterlichen Dichtung, die den 
segensspendenden Stein zum einen mit der Artus-Eptik 
(Ritterorden der Tempelherren) und zum anderen mit dem 
Abendmahl (und damit dem Opfertod Christi) verbindet, 
scheint denn auch die jeweilige Akzentuierung in der Bild- 
gestaltung der jüngeren Schweizer Künstler geprägt zu 
haben. 
Bei Dobler wird die Kreuzform im Wortsinn mehr- 
schichtig thematisiert oder zitiert: mit den Schokolade- 
kreuzen (in der Form des «christlichen» Kreuzes als 
Symbol des Opfertodes) und mit den diese überkreu- 
zenden «Andreas-Kreuzen», die durch die Wattestäbchen 
gebildet werden; zum anderen durch die überdeutlich 
herausgebildete Heraldik in der Komposition der Alltags- 
gegenstände, die die banalen Objekte zu einer Art Ordens- 
zeichen überhöht. Auf diese Dimensionen weist Dobleı 
mit der Bezeichnung «Gral» hin, jedoch ohne die Tragweite 
dessen zu thematisieren. Dobler erzählt nicht, er verschlüs- 
selt, wozu die Verwendung des Andreas-Kreuzes (das seinen 
Vornamen enthält) noch beitragen mag. Wenngleich dieses 
Bild (wie auch seine anderen in derselben Zeit entstan- 
denen Arbeiten) durch die darin symbolisierte Fetischisie- 
rung von Konsumgütern zweifelsohne gesellschaftskri- 
tisch zu verstehen ist, geht es Dobler meines Erachtens 
nicht primär um die Entlarvung der Konsumgesellschaft 
mittels einer zynischen Verfremdung, sondern um 
ironische Assoziationen, die eine Nicht-Identität des 
Künstlers ebenso sehr meinen wie sie ım Titel das Sugge- 
stive des Bildes mit beschwören. 
Das heraldische Moment geht der Komposition von Rut 
Himmelsbach weitgehend ab, selbst wenn die Assemblage 
von Fotoleinwänden und Bildtafeln formal ebenso eine 
«zentrierte» Lösung anstrebt, wie Doblers Gral. Ihr Gral 
wird nicht über das verfremdete und solcherart mehrdeu- 
tige Bild- und Textzitat evoziert, wie bei Kiefer, nicht durch 
die heraldische Übersteigerung von Alltagsgegenständen, 
wie bei Dobler; die Ironie der Kompositionsweise des 
jüngeren Kollegen ist hier gewissermassen der Affirmation 
gewichen, indem das Mittelteil als abstrakte Gestaltung so 
etwas wie ein unbestimmtes, ruhiges, vielleicht heilsspen- 
dendes Licht zum Erleuchten bringt. Verstärkt wird dieser 
Eindruck durch die undifferenziert gehaltenen Blau- 
flächen links und rechts aussen sowie das Aufeinander- 
treffen der symmetrischen Rosettenformen des Brotes und 
der Steinplatten, die formal und inhaltlich aufeinander 
Bezug nehmen. Die Erhabenheit des Ausdrucks stellt sich 
über die innere Balance der sich entsprechenden, in sich 
selbst kreisenden Teilstücke her: die Plattenrosette, das 
«runde» blaue Licht, den Brotkranz. Darüber hinaus ist 
dem Interpretieren des Betrachters freier Lauf gelassen: 
wird der Brotlaib in diesem Zusammenhang vielleicht 
direkt mit der Abendmahlsthematik korreliert. — in Beto-
	        
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