Volltext: Jahresbericht 1993 (1993)

in stärkerer Aufsicht über den Tisch und damit illusioni- 
stisch über die Bildebene hinaus dem Betrachter entgegen; 
der hintere, nicht mehr fokusiert, erscheint unscharf durch 
Raumdunst in eine nur durch ihn erschlossene Tiefe ent- 
rückt, wo sich die Ebene schon dem Horizont entgegen- 
wölbt. Diese und weitere binäre Oppositionen werden 
überlagert durch die harmonische Dreiecksfügung der 
durch ruhende Ovale bestimmten Objekte, des Glases und 
der beiden Teller, die die vierte grosse Form, den unsta- 
bilen Becher, in sich fassen. Die kleinen, komplizierten 
Dinge erzeugen durch ihre kontrastierenden Formen wei- 
tere Spannungen zu diesen vier einfachen, dominierenden 
Rotationskörper; mit Nüssen und Uhrkette wird in der von 
geheimen Gesetzen durchwalteten Ordnung auch der 
Zufall integriert. 
Haben wir bis hieher, in der Betonung des Einfachen, 
dem Charakter der Dinge, der Kombinatorik ihrer Ord- 
nung, der Thematisierung der Kunstmittel das modern 
Anmutende des Gemäldes hervorgehoben, so führt uns der 
letzte Gesichtspunkt zwar ins Zentrum des Werkes, zu- 
gleich aber in die Geistigkeit des 17. Jahrhunderts zurück. 
Denn das zentrale Kunstmittel ist hier offenbar das Licht. 
Angesichts seines Charakters trifft die Rede von der 
«Thematisierung der Kunstmittel» jedoch nur mehr ein 
Äusserliches, während vielmehr davon zu sprechen wäre, 
dass das Licht als der eigentliche Inhalt und die Gegen- 
stände nur als seine Träger, als der Ort seiner Manifestation 
im Irdischen erscheinen. Entsprechend wählt Claesz die 
Materialien, die das Licht in der Vielfalt seiner Brechungen 
und Reflexe zur Geltung bringen; dass die zinnernen Teller 
kaum weniger hell schimmern als der silberne Becher, 
macht deutlich, dass diese innere Lichthaltigkeit dem 
Künstler wichtiger als der materielle Wert der Dinge war. 
Dieses von links oben einströmende Licht — das weit geöff- 
nete Glas hebt sich ihm fast aktiv empfangend entgegen — 
erfüllt, sich kontinuierlich ausbreitend, das ganze Bild und 
durchdringt es bis in die dunklen Schatten mit seinem 
warmen Glanz. Wie bei Rembrandt oder Vermeer nehmen 
wir es als tragende, gehaltvolle Stimmung wahr, welche die 
kühle Nüchternheit der Tageshelle verändert, transzen- 
diert auf ein Numinoses, das dem 17. Jahrhundert noch 
eindeutig ein Göttliches war, Seiner Wirkungsmacht dient 
auch die zurückhaltende Farbigkeit; sie tritt stets hinter 
dem Hell-Dunkel-Wert zurück und wird ganz vom licht- 
haften Silber und Gold bestimmt, aus denen auch die grün- 
lichen und beigen Töne als Abschwächung und verbin- 
denden Grund entwickelt sind. Der Impressionismus ver- 
fährt genau umgekehrt: dort verschwindet das Licht im 
Leuchten der reinen bunten Farben — die Welt wird von 
Diesseitigkeit leuchten, doch wird es nur noch ein diessei- 
tiges Leuchten sein. 
Christian Klemm 
Die kunsthistorische Einordnung in das Werk von Claesz um 1638 und die 
ältere Literatur ist zusammengestellt in dem Katalog Die Gemälde der Stiftung 
Betty und David M. Koetser. Zürich 1988, Nr. 12.
	        
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