Volltext: Jahresbericht 1993 (1993)

geschweige zu einer Gesamtform zu kommen, erinnern 
mag. Das andere Blatt zeugt von einem energischeren, 
grossformigeren Zugriff, doch hier löst sich die plastische 
Gestalt durch das Ausgreifen der Linien in den Raum auf 
und weist so andeutungsweise auf den reifen Zeichenstil 
nach 1945 voraus. Zwischen dieser Auffassung, der auch der 
Kopf der Mutter von 1924 verpflichtet bleibt, und der Selbst- 
bildnis-Skulptur besteht ein qualitativer Sprung, eine 
grundsätzliche Änderung im plastischen Konzept. Giaco- 
metti geht nicht mehr von der durch das organische Spiel 
der Muskeln bewegten äusseren Schicht des menschlichen 
Leibes aus, die er durch ein zwar meisterhaftes, aber letzt- 
lich leeres Gerüst von polygonalen Flächen zu umreissen 
sucht; vielmehr baut er nun das Gesamtvolumen aus drei 
geometrisch gespannten, kernhaft erfüllten elementaren 
Körpern auf, deren Energie selbst die Detailformen des 
Gesichtes zu durchdringen vermag. 
Trotz der ganz lückenhaften Kenntnis von Albertos pla- 
stischer Produktion aus diesen Jahren kann somit festge- 
stellt werden, dass er schon bei Bourdelle lernte, sich nicht 
einer Manier hinzugeben, sondern die grundsätzlichen 
Fragen des plastischen Gestaltens immer wieder neu zu 
stellen und verschiedene konzeptuelle Ansätze zu ver- 
folgen. Wie aus dessen oberflächlich oft widersprüchlich 
wirkenden Schriften oder auch aus dem Brief Albertos vom 
29. Dezember 1923 an seine Eltern erhellt, wurde Bourdelle 
gerade dadurch zum ausgezeichneten, die Schüler zu ihrer 
eigenen Ausdrucksweise führenden Lehrer, als er das Feld 
der Probleme öffnete, statt es mit eigenen Antworten zu ver- 
schütten. Auch in seinem eigenen Werk blieb er stets ein 
Suchender —-man braucht nur seine beiden Hauptwerke im 
Kunsthaus, den grossen Beethoven-Kopf von 1902 und die 
1925 vollendete Sappho im Mirö-Gärtchen zu betrachten. 
Dass Giacometti der strenge und komplexe Aufbau der 
monumentalen Sitzfigur aus stilisierten Volumen, die 
dynamisierte Geometrie der Lyra nicht unbeeindruckt 
liessen, ist evident. Doch übertrifft nun der Schüler den 
Meister in der künstlerischen Ökonomie, in der Stringenz 
der Formulierung der künstlerischen Probleme. 
Diese Strenge im Ausscheiden des Unnötigen, im 
Beherrschen des Zufälligen, diese Reduktion auf das 
Wesentliche und gerade dadurch geballt Ausdrucksvolle 
hat Giacometti im Louvre gelernt. In einer ähnlichen 
Absetzbewegung befreite sich eine Generation zuvor 
Maillol im Rückgriff auf die klassische Antike von den 
impressionistischen Weichheiten und Ausblühungen 
Rodins; nun geht Alberto noch weiter zurück, zu den 
archaischen Kuroi mit ihren verhalten asymmetrisch dyna- 
misierenden Verschiebungen, zu den so bewusst aus dem 
Block heraus gestalteten ägyptischen Skulpturen mit ihren 
zeichenhaft flach hervortretenden Einzelheiten, vor allem 
zu den sumerischen Köpfen des 3. Jahrtausends vor Chri- 
stus wie dem Gudea aus Lagasch, von dem er einen Gipsab- 
guss erwarb. Beim Kopieren nach diesen Werken muss ihm 
die letztlich rätselhafte Vermittlung von kubischer, unver- 
rückbarer Stilform und organisch schwellenden Run- 
dungen deutlich fassbar geworden sein; sie tritt im Selbst- 
bildnis mit der Energie einer neuen Offenbarung in Erschei- 
nung und bleibt in vielen Skulpturen, besonders in denje- 
nigen nach den Köpfen der Eltern, bis hin zum Cube ein 
Hauptthema. 
In der programmatischen Atelier-Stilleben-Zeichnung 
von 1925 werden nun die beiden Extreme solcher Gestal- 
tung mit dem Kopf des Gudea und dem quasi kubischen 
Kopf, der nach Hohl ebenfalls ein Selbstbildnis sein soll, 
einander gegenübergesetzt. Denn unmittelbar nach dem 
«Meisterstück» radikalisiert Giacometti die Zerlegung des 
organischen Körpers in stereometrische Elemente. Im Torse 
treten die drei Formen auseinander, die nun sowohl als geo- 
metrische wie als einzeln in sich geschlossene entschieden 
betont werden: die Einwirkung der reinen Form Brancusis 
ist unübersehbar — seinem Jünglingstorso antwortet Giaco- 
metti mit dieser Venus anadyomene, Die Haare sind nur noch, 
wie die drei seitlichen Locken des Selbstbildnisses, 
gezeichnet; der Querschnitt des Halses aus mehreren 
geraden und einem gekrümmten Segment prägt sich im 
linken Schenkel entschiedener aus, und wie ein Leitfossil 
sitzt das knapp stilisierte Ohr aus dem Angelpunkt des 
Kopfes nun an der Achsel als Armansatz. Man wird dieses 
klötzlein-artige Element noch öfters finden, zunächst voll- 
ends zum Zeichen kondensiert beim Cowple von 1926 —und 
hier nun zugleich als Ohr und als Arm. 
Radikalisiert Giacometti im Torse das formale Prinzip 
des Selbstbildnisses, so im Couple das archaisch-inhalt- 
liche. Unter dem Eindruck der vor-hochzivilisatorischen 
Kunst Afrikas strebt er hinter das Abbildhafte der sumeri-
	        
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