geschweige zu einer Gesamtform zu kommen, erinnern
mag. Das andere Blatt zeugt von einem energischeren,
grossformigeren Zugriff, doch hier löst sich die plastische
Gestalt durch das Ausgreifen der Linien in den Raum auf
und weist so andeutungsweise auf den reifen Zeichenstil
nach 1945 voraus. Zwischen dieser Auffassung, der auch der
Kopf der Mutter von 1924 verpflichtet bleibt, und der Selbst-
bildnis-Skulptur besteht ein qualitativer Sprung, eine
grundsätzliche Änderung im plastischen Konzept. Giaco-
metti geht nicht mehr von der durch das organische Spiel
der Muskeln bewegten äusseren Schicht des menschlichen
Leibes aus, die er durch ein zwar meisterhaftes, aber letzt-
lich leeres Gerüst von polygonalen Flächen zu umreissen
sucht; vielmehr baut er nun das Gesamtvolumen aus drei
geometrisch gespannten, kernhaft erfüllten elementaren
Körpern auf, deren Energie selbst die Detailformen des
Gesichtes zu durchdringen vermag.
Trotz der ganz lückenhaften Kenntnis von Albertos pla-
stischer Produktion aus diesen Jahren kann somit festge-
stellt werden, dass er schon bei Bourdelle lernte, sich nicht
einer Manier hinzugeben, sondern die grundsätzlichen
Fragen des plastischen Gestaltens immer wieder neu zu
stellen und verschiedene konzeptuelle Ansätze zu ver-
folgen. Wie aus dessen oberflächlich oft widersprüchlich
wirkenden Schriften oder auch aus dem Brief Albertos vom
29. Dezember 1923 an seine Eltern erhellt, wurde Bourdelle
gerade dadurch zum ausgezeichneten, die Schüler zu ihrer
eigenen Ausdrucksweise führenden Lehrer, als er das Feld
der Probleme öffnete, statt es mit eigenen Antworten zu ver-
schütten. Auch in seinem eigenen Werk blieb er stets ein
Suchender —-man braucht nur seine beiden Hauptwerke im
Kunsthaus, den grossen Beethoven-Kopf von 1902 und die
1925 vollendete Sappho im Mirö-Gärtchen zu betrachten.
Dass Giacometti der strenge und komplexe Aufbau der
monumentalen Sitzfigur aus stilisierten Volumen, die
dynamisierte Geometrie der Lyra nicht unbeeindruckt
liessen, ist evident. Doch übertrifft nun der Schüler den
Meister in der künstlerischen Ökonomie, in der Stringenz
der Formulierung der künstlerischen Probleme.
Diese Strenge im Ausscheiden des Unnötigen, im
Beherrschen des Zufälligen, diese Reduktion auf das
Wesentliche und gerade dadurch geballt Ausdrucksvolle
hat Giacometti im Louvre gelernt. In einer ähnlichen
Absetzbewegung befreite sich eine Generation zuvor
Maillol im Rückgriff auf die klassische Antike von den
impressionistischen Weichheiten und Ausblühungen
Rodins; nun geht Alberto noch weiter zurück, zu den
archaischen Kuroi mit ihren verhalten asymmetrisch dyna-
misierenden Verschiebungen, zu den so bewusst aus dem
Block heraus gestalteten ägyptischen Skulpturen mit ihren
zeichenhaft flach hervortretenden Einzelheiten, vor allem
zu den sumerischen Köpfen des 3. Jahrtausends vor Chri-
stus wie dem Gudea aus Lagasch, von dem er einen Gipsab-
guss erwarb. Beim Kopieren nach diesen Werken muss ihm
die letztlich rätselhafte Vermittlung von kubischer, unver-
rückbarer Stilform und organisch schwellenden Run-
dungen deutlich fassbar geworden sein; sie tritt im Selbst-
bildnis mit der Energie einer neuen Offenbarung in Erschei-
nung und bleibt in vielen Skulpturen, besonders in denje-
nigen nach den Köpfen der Eltern, bis hin zum Cube ein
Hauptthema.
In der programmatischen Atelier-Stilleben-Zeichnung
von 1925 werden nun die beiden Extreme solcher Gestal-
tung mit dem Kopf des Gudea und dem quasi kubischen
Kopf, der nach Hohl ebenfalls ein Selbstbildnis sein soll,
einander gegenübergesetzt. Denn unmittelbar nach dem
«Meisterstück» radikalisiert Giacometti die Zerlegung des
organischen Körpers in stereometrische Elemente. Im Torse
treten die drei Formen auseinander, die nun sowohl als geo-
metrische wie als einzeln in sich geschlossene entschieden
betont werden: die Einwirkung der reinen Form Brancusis
ist unübersehbar — seinem Jünglingstorso antwortet Giaco-
metti mit dieser Venus anadyomene, Die Haare sind nur noch,
wie die drei seitlichen Locken des Selbstbildnisses,
gezeichnet; der Querschnitt des Halses aus mehreren
geraden und einem gekrümmten Segment prägt sich im
linken Schenkel entschiedener aus, und wie ein Leitfossil
sitzt das knapp stilisierte Ohr aus dem Angelpunkt des
Kopfes nun an der Achsel als Armansatz. Man wird dieses
klötzlein-artige Element noch öfters finden, zunächst voll-
ends zum Zeichen kondensiert beim Cowple von 1926 —und
hier nun zugleich als Ohr und als Arm.
Radikalisiert Giacometti im Torse das formale Prinzip
des Selbstbildnisses, so im Couple das archaisch-inhalt-
liche. Unter dem Eindruck der vor-hochzivilisatorischen
Kunst Afrikas strebt er hinter das Abbildhafte der sumeri-