Stadt wird sodann das physikalische Prinzip eines ein-
heitlichen, zunächst leeren, mathematisch zu beschrei-
benden Raumes wichtig. Die dramatischen Wolken und
atmosphärischen Schleier verschwinden; bis in die fernste
Tiefe stehen die Häuser in heiterer, durchsichtiger Klar-
heit. Nicht mehr als manchmal fast drohende Massen wir-
ken sie, sondern leicht und präzis wie die Oberflächen
regelmässiger Körper. Ihre Gestalt im einzelnen und ihre
Beziehungen untereinander sind zwar zunächst mit der
Camera obscura exakt aufgenommen, anschliessend aber
vom Künstler nach den Erfordernissen der Komposition
viel entschiedener, als der Augenschein glauben macht,
modifiziert: Spannung und Rhythmik der Flächengliede-
rung, Blickführung, Bevorzugung bildparalleler Elemente
zur Klärung der räumlichen Beziehungen und vieles der-
gleichen mehr bestimmen die Gestaltung®. Und damit
tritt der Inhalt in Konsonanz mit dem prinzipiellen Cha-
rakter eines Gemäldes als von Farben bedeckte Fläche: auf
dieser Übereinstimmung mit den «Urtatsachen des Bil-
des» beruht die «einfachste Idealität», die aus Canalettos
Bildwelt spricht und ihr etwas «grandios Weiträumiges,
Aufgeräumtes, Festliches und Feierliches» verleiht, wie
Hetzer in einem schönen Aufsatz gezeigt hat“
Bernardo Bellotto (1721-1780) war seines Onkels
bester Schüler; vollständig eignete er sich seine Bild-
erzeugungs-Iechnologie an, wie ein paar zwischen den
beiden strittige venezianische Veduten zur Genüge bewei-
sen. So galt er denn lange auch nur als dessen Epigone —-
man mag es als die gerechte Strafe der Geschichte für seine
Usurpierung des Namens «Canaletto» für Marketing-
zwecke nehmen. Doch gibt es auch andere Gründe für die
lange Verkennung seiner Eigenart®. Bellotto trat erst aus-
serhalb von Venedig aus dem Schatten seines Lehrers; der
Aufenthalt in der Lombardei 1744 führte zu seiner Selbst-
findung, deren schönstes Zeugnis die Ansichten von
Gazzada in Mailand und Zürich sind. In der Folge wand-
te er sich nach Deutschland: in Dresden (1747-1758 und
1762-1766), Wien (1759/60), München (1761) und
schliesslich in Warschau (1767 bis zu seinem Tode 1780)
malte er in königlichem Auftrag seine grossformatigen
Hauptwerke, und hier sind sie denn auch im wesentlichen
verblieben und dominieren vollständig. Die Gemälde
Canalettos hingegen fanden ihre Bewunderer vorzüglich
in Frankreich und vor allem in England, woher ihn die
meisten Aufträge erreichten und wohin er 1746 selbst
reiste; so besitzen noch heute weder der Louvre noch die
National Gallery ein Werk Bellottos. Erst mit der regen
Reise-, Ausstellungs- und farbigen Reproduktionstätigkeit
seit den fünfziger Jahren trat die Differenz der künstle-
rischen Auffassung von Onkel und Neffe allgemein ins
Bewusstsein.
Eine zweite rezeptionsgeschichtliche Bedingung, die
sich für Bellotto nachteilig auswirkte, ergab sich aus der
Wahrnehmung und Charakterisierung der veneziani-
schen Vedutenmalerei in der Polarität von Canaletto und
Guardi, die ein Drittes, Andersartiges quasi notwendig aus
dem Diskurs ausschloss. Bezeichnend genug der bereits
zitierte unvergleichlich trefflich charakterisierende Text
Hetzers, der Bellotto doch nur als negative Folie Cana-
lettos wahrzunehmen vermag. Mit seiner Kritik an der
weniger blühenden Farbigkeit und der allzu präzisen
Pinselführung war er freilich bereits auf dem richtigen
Weg - nur wäre hier nicht Unvermögen, sondern eine
andere Auffassung zu sehen. Was bei Canaletto in einem
glücklichen Augenblick in selbstverständlich erfülltem
Sein zusammenklang, wird nun beim jüngeren Künstler
zusammengezwungen und gesteigert bis zum Punkt, wo
eine überklare Natürlichkeit die Spannungen zwischen
Erscheinung, Wahrnehmung und Wiedergabe eben gerade
noch aushält.
Nicht von ungefähr tritt bei Bellotto die Farbe hinter
den ungleich entschiedeneren Helldunkel-Kontrasten
zurück, denen schon durch ihr Mathematisch-Konstruier-
bares etwas Analytisches eignet. So gibt es tatsächlich
Ansichten, die einen fiktiven Sonnenschein von Norden
zeigen”; und auch bei den Ruinen der Kreuzkirche treten die
Parameter auseinander: bei genau von Ost nach West
gerichtetem Blick entspricht der Schattenwurf dem späte-
ren Vormittag, doch seine Länge und die rosa Verfärbung
der Atmosphäre deuten auf den Abend. Das harte Entge-
gensetzen von Licht- und Schattenzonen, die anders als
bei Canaletto nicht mehr atmosphärisch eingebunden
wirken, erzeugt eine quasi abstrakte Ordnungsstruktur,
welche sich das Gegenständliche unterwirft: so wird etwa
der hinterste Teil der diagonalen Häuserflucht durch den