Volltext: Jahresbericht 1997 (1997)

Zum Motiv der «Venus» muss noch Folgendes be- 
dacht werden: Carl Burckhardt war geprägt von dem 
Gymnasium einer Stadt, die stark auf Klassizismus und 
humanistische Bildung ausgerichtet war; selbst die zag- 
hafte Öffnung zum Jugendstil in Architektur und De- 
koration mündete zumeist unmerklich in klassizistische 
Formensprache und antikisierende Motive. Die Welt von 
gestern, die Welt von Jahrhunderten lebte in der Tra- 
dition weiter. Auch in Burckhardt insofern, als seinem 
sprühenden, vorstellungsträchtigen Geist die Mythen- 
welt der Antike zum unerschöpflichen Ausgangspunkt 
seiner freien Phantasie wurde - nicht zur Zwangsjacke, 
sondern zur Quelle eigener Interpretation. Schon stehen 
wir mitten im Kampf zwischen «Thema» und «Motiv». 
Motive aus der klassischen Mythologie tauchen bei 
Burckhardt bis in die Jahre der reifen Meisterschaft auf: 
Götter, Halbgötter, Gestalten aus der antiken Literatur — 
die Werktitel geben sie an. Thema aber, der innere Gehalt 
solcher Gestalten nämlich, bilden nicht illustrative For- 
Wilhelm Lehmbruck: 
frauentorso, 1910 
Öffentliche Kunstsammlung 
3asel 
Aristide Maillol: 
Laction enchainee, um 1906 
Öffentliche Kunstsammlung 
Basel 
mulierungen, sondern ungegenständliche, aber in eineı 
Form zu fassende Gehalte: Kraft, Lieblichkeit, Bewe- 
gung, Ruhe, die niemals durch blosse Illustration, son- 
dern nur in der Interpretation durch eine adäquate 
selbstgeschaffene Formensprache ausgedrückt werden 
können. Ist nicht bei heutigen Meistern zeitgenössischer 
Stilrichtungen Ähnliches zu beobachten, bei Barnett 
Newman, bei Cy Twombly? Selbstverständlich hat Carl 
Burckhardt sich dem Einfluss klassischer wie damals 
bewunderter zeitgenössischer Vorbilder nicht entzogen. 
Wer das täte, erwiese sich als beschränkt und dumm. 
Dumm und lernunfähig jedenfalls war ein Carl Burck: 
hardt nicht. Wir erkennen rasch, wie griechische Meister: 
werke, wie Rodin, Hildebrandt, Klinger ihre Rolle bei 
Burckhardt gespielt haben - aber alle als Meister, die neu 
gesehen und ihre eigene Bildsprache gefunden haben. 
Darum galt Rodin dem um eine Generation Jüngeren 
Burckhardt so viel; Rodin, der sich zum Beispiel so ge- 
äussert haben soll: «...Imitation der Natur führt zu ihrem 
Verlust; interpretiere, übersetze ...». Das war Burckhardts 
Ziel: interpretieren, übersetzen. Die «Venus» — schwer: 
verdaulich auch für uns Heutige, undenkbar als markt- 
konformes Kunsthandelsobjekt — ist Burckhardts erste. 
gewaltige Anstrengung, diesem Ziel näherzukommen. 
Erreicht hat er es in den Flussgöttern «Rhein» und 
«Wiese», der Brunnengruppe vor dem Badischen Bahn: 
hof, und in der «Schreitenden Amazone», seinem letzten 
grossen Werk. 
Burckhardt war von Rodin fasziniert, seit er 1906 
in der Basler Kunsthalle erstmals Werke von ıhm ge- 
sehen hatte; er bewunderte ihn tief. 1917 begann er unteı 
dem Eindruck der grossen Rodin-Ausstellung in deı 
Basler Kunsthalle mit dem Abfassen seiner Schrift 
«Rodin und das plastische Problem». «Age d’airain». 
zum Beispiel, bedeutete ihm ein plastisches Kunstwerk, 
das zwar durch exakte Triangulation und Punktierung 
unmerklich gehalten aber nicht von der Oberfläche. 
sondern funktional vom Innern des Organismus aus- 
gehend aufgebaut ist. Stellen wir uns, um dem künst- 
lerischen Charakter der «Venus» näherzukommen, zweı 
etwa gleichzeitige Skulpturen vor Augen: Lehmbrucks 
«Frauentorso», ein Kunststeinguss von 1910: die Ober: 
schenkel knapp umschlossen von karger, geknoteteı
	        
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