Volltext: Jahresbericht 1997 (1997)

die Gefahr des zerfahrenden Ausuferns der vorangegan- 
genen expressiven Versuche erledigte sich damit von 
selbst. Nicht zu Unrecht spricht Kirchner von «dem 
zwingenden Rhythmus der im Block geschlossenen 
Form». Keine Skulptur verdeutlicht das besser als die 
«Totenklage»; das Gefüge der Arme und die gewölbten 
Rücken der Frauen vergegenwärtigen das Umgreifende 
des Baumes, aus der die Gruppe geschält und der sie 
trotz dem Lasten des Toten in aufstrebender Spannung 
erhält. In allen Ansichten umschliesst ein strenger Um- 
riss die drei ebenso selbstverständlich wie kunstvoll 
ineinander verschränkten Figuren; um so wirkungsvoller 
setzt der Einschnitt über der Schulter den geknickt ge- 
neigten Kopf der Mutter ab. Ebenso wandelt sich das 
Ineinanderschmelzen der Menschen unmerklich in 
einen Ausdruckswert um. Die Enge der Masse nimmt 
dem Mann das Schwellende des Lebens, das ganz den in 
die Rundungen geschmiegten Frauen zugeordnet wird. 
Die Bemalung mit Schwarz, Rot und Weiss erinnert an 
aussereuropäische Kunst und archaische Vasenbilder, bei 
denen allerdings das Weiss die Frauen, das bräunliche 
Inkarnat die Männer kennzeichnet; die Umkehrung 
betont das Totsein. 
So wie in der «Totenklage» das Ringen um die künst- 
lerische Form im gesteigerten Ausdruck des vollendeten 
Werkes aufgehoben bleibt, so fasst hier Scherer auch in- 
haltlich seine zentralen Motive und Aussagen zusam- 
men. Er vereint die beiden Themenkomplexe, um die die 
meisten seiner Skulpturen kreisen: Mutter und Kind und 
Mann und Weib. Aber anders als die Expressionisten der 
ersten Generation sucht er nicht mehr die elementare 
Gestaltung der sinnlich rauschhaften Begegnung der 
Geschlechter. Nach dem Krieg hatte sich das Lebens- 
gefühl verdüstert; die unüberbrückbare Vereinzelung, 
das Tragische des Getrenntseins und des Todes rücken in 
den Vordergrund. Unmittelbar vor der «Totenklage» 
schuf Scherer ein Auftragswerk des Basler Kunstkredites 
für die Marienkirche; es stellt den Moment dar, in dem 
sich der Jesusknabe von seiner Mutter löst. Gleichzeitig 
machte er, von Grünewalds Isenheimer Altar ausgehend, 
Entwürfe zu einem Kruzifix; zu Füssen Christi kauert 
Maria Magdalena. Neben der letzten dieser Skizzen er- 
scheint bereits die Komposition der «Totenklage». In 
einem Brief an Albert Müller nennt er sie «eine Art Pietä 
Gruppe von 3 Figuren»: die Ableitung von den beiden 
grossen christlich fundierten «Rahmenthemen» für den 
leidenden und trauernden Menschen lässt sich also in 
der Werkgenese genau verfolgen. Schon 1921/22 hatte 
er eine kleine Pietä in der Art der letzten Werke Lehm- 
brucks und eine langgestreckte Gruppe eines liegenden 
Sterbenden und einer Frau geformt, die gewisse Hal- 
‘ungsmotive vorweggenommen hatte. 
Dem deutschen Expressionismus eignete eine starke 
religiöse Dimension. Die ekstatische Gefühlsintensität, 
eine lodernde Geistigkeit brachte eine innere Affinität 
zu der nordischen Ausdruckskunst der Spätgotik. Nicht 
von ungefähr sammelte Wilhelm Wartmann in den 
zwanziger Jahren gleichzeitig die Tafeln der Nelken- 
meister und stellte Expressionisten wie Scherer aus. Nicht 
wenige Maler, z.B. Kokoschka und Nolde, griffen christ- 
liche Themen auf und gestalteten sie in kompromisslos 
neuen Formen. Wie die Künstler des 15. Jahrhunderts 
strebten sie eine Humanisierung und Aktualisierung der 
in ihnen enthaltenen menschlichen Grundsituationen 
an, wobei man sich nun nicht mehr an die Schrift ge- 
bunden fühlte. Die Verbindung der Piıetä mit der Maria 
Magdalena am Fusse des Gekreuzigten in Scherers 
Skulptur lässt beide Momente aus der Geschichte Jesu in 
der allgemeineren Situation des toten Mannes zwischen 
den beiden trauernden Frauen, der Mutter und der 
Geliebten, aufgehen. So darf man die «Totenklage» wohl 
als modernes Andachtsbild bezeichnen; sie trägt als sol- 
ches eine existentielle Dimension in unsere Sammlung 
und die Gruppe expressionistischer Gemälde, die diese 
allein nicht in gleicher Dichte zu vermitteln vermögen. 
ChK 
Literatur: grundlegend: Hermann Scherer. Holzskulpturen 1924-1926 
(Text von Martin Schwander. Ausstellungskatalog Stuttgart 1988/ 
Zürich 1989. Bes. S.90-97, Zitat Scherer an Müller S. 50); allgemein: 
Skulptur des Expressionismus (ed. Stephanie Barron. München 1984 = 
Ausstellungskatalog Los Angeles 1983 / Köln 1984. Bes. Nr. 119, Holz- 
schnitt Scherers «Selbstbildnis mit «Totenklage»» Nr. 120, Zitat Kirchner 
53.109, Zitat Sauerlandt S.225); zewer: Die Expressionisten (Ausstel- 
jungskatalog Köln: 1996); besonders über die Beziehung Kirchmner/ 
Scherer: Gerhard Kolbert: Das Liebespaar. Begebenheiten um eine Holz- 
skulptur von Hermann Scherer (Kölner Museums-Bulletin 1995, Heft 2. 
5.4-18)
	        
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