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sich von der glatt geschlossenen Perfektion der älte-
ren, hierin dem Art déco verwandten Pr oduktion gelöst
und sich auf das fluktuierend Unfassbare der l ebendi-
gen Präse nz geöffnet, das von nun an im Zentrum von
Albertos Suche stehen wird. In den Proportionen klingt
erstmals die extreme Überlängung an, die ihm zehn
Jahre später die Phase der winzigen Skulpturen zu
überwinden helfen wird. Dass dies hier wesentlich
durch die F einhe it der Ästchen bedingt ist, passt zum
Gehalt diese s steilen Aufragens als Ausdruck der
Lebensenergie, des élan vital. Die in Giacomettis Werk
immer wieder anklingende me taphorische Kongruenz
von Mensch und Baum, kulminierend in «La forêt» und
«La clairière», gehört zu se inen Wurzel n im Symbo-
lismu s Segantinis und Hodlers.
Man wird diese zerbrechlichen, nur knapp dem
Untergang entgangene n, zauberhaften Hölzchen nicht
mit zu viel Bedeutung belasten wollen – schon das
Gesagte erweist sie als erstaunlich erhellende Zeug-
nisse für Albertos Denken um 1935. Gera dezu eine
Überfüll e von Bezügen drängt sich hingegen bei der
näheren Betra c htung des wenig spät er ents tande nen
Flachreliefs mit einem Stillleben
auf6–
man könnte
von einem Pr ogrammw erk, einem sys te matischen
Offenlegen der künstlerischen Absichten sprechen.
Auch diese Arbeit bew egt sich an der Gr enze des plas-
tischen Gestaltens: war bei den Figürchen die Masse
durch die Kl einheit und Dünnheit des Zweigleins
extrem r eduziert, so wird dies nun durch die äusserst
gering e Tiefe der Reliefschicht – kaum zwei Millimeter
– erreicht: erst im Streiflicht wird das Motiv richtig
sichtbar . Nur in der merkwürdig substanzlosen Hellig-
keit des Gipses wird das Erscheinungs hafte künstle-
risch wirksam, wie dies auch für «Tête qui regarde»
ebens o wie die spätere «Femme au chariot» gilt. Das
di ffus Weissliche öffnet den leicht vibrierenden Grund
auf eine atmende Tiefe. In zwei ovalen Flachreliefs von
1936 für den «Salle de cinéma et de danse» des Baron
Ro land de l’Espée hatte A lberto diese Möglichk eit
noch etwas unsicher
erprobt,7 während
das frühere
Re lief «L ’ Amérique» ganz dem Art déco und s einer
Flächigkeit v erhaftet
blieb.8 Diese
Auftragsarbeiten
nung gab es mehrere, einst von Giovanni in der lokalen
Tradition verzierte Holzgegenstände, auch wird man
von Kirchners umfangreichen Schnitzereien in s einem
Davoser Haus gehört ha ben. Und die Gebrüder Giaco-
metti selbst schufen in jenen Jahren in Paris Ausstat-
tungsstücke wie Lampen und Vasen für den Ensem-
blier Jean-Michel Frank am F aubour g Saint-Honoré.
Späte r zerstörte A lberto diese Arbeiten wieder und nur
diese beiden zierlichen Statuetten überlebten, da er
sie im Mome nt ihrer Vollendung seiner Cousine Vetia
Michel in Borgonovo schenk te. In einer Schublade gut
verräumt, gelangten sie spä ter zu ihrer Nichte Mar grit
Bühler-Gredig nach U zwil, zu deren Erinnerung sie
nun von ihren Kindern der A lberto Giacometti-Stiftung
geschenkt wurden.
Als Ents tehungsz eit na nnte Diego einma l 1934, ein
andermal 1938: es sind die Eckdaten, innerhalb derer
die Figürchen entstanden sein
dürften.3 1934
schuf
A lberto die schwebend thronende, hoch stilisierte
Frauenfigur, die das «objet invisible» hält; unbefriedigt
von den glatten F ormen, nahm er gegen Ende Jahr das
M odells tudium w ieder auf, das seine r Kunst eine neue
Richtung geben
sollte.4 Da
der Körper nicht zu be wäl-
tigen war, k onzentrierte er sich bald auf den Kopf: die
beiden Sta tuetten sind die einzigen plastischen Zeu-
gen s einer damaligen Überlegungen für die ganze
Figur. Die kleinere schliesst in der Haltung der Arme
und Beine und der flächigen, auf die linearen Umrisse
bezogenen Plastizität noch eng an das grosse Werk an,
das wir im Zus amme nhang mit dem Tod des Vaters
und s eines Grabmals zu verstehen suchten. In dem
Figürchen ve rschiebt sich der Ausdruck vom hiera-
tisch Ba nnenden zum Be ten, die komplementäre Posi-
tion der religiösen Beziehung, während das Kultbild-
hafte eher in der grösseren Schnitzerei nachklingt. Ob
Diegos Bezeichnung der auffälligen Bekrönung als
Sir ene auf A lberto zur ück geht? Sie würde an den
T otenvogel am Thron des «Objet invisible» anschlies-
sen.5 Jedenfalls
scheint in ihrem Auflodern die Figur
mit höheren Sphären zu k ommunizier en . Die Gestal-
tung ihres Körpers ist bereits ganz anders: wesentlich
lockerer und zugleich organisch schwel l ender, hat sie