Volltext: Jahresbericht 2002 (2002)

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sich von der glatt geschlossenen Perfektion der älte- 
ren, hierin dem Art déco verwandten Pr oduktion gelöst 
und sich auf das fluktuierend Unfassbare der l ebendi- 
gen Präse nz geöffnet, das von nun an im Zentrum von 
Albertos Suche stehen wird. In den Proportionen klingt 
erstmals die extreme Überlängung an, die ihm zehn 
Jahre später die Phase der winzigen Skulpturen zu 
überwinden helfen wird. Dass dies hier wesentlich 
durch die F einhe it der Ästchen bedingt ist, passt zum 
Gehalt diese s steilen Aufragens als Ausdruck der 
Lebensenergie, des élan vital. Die in Giacomettis Werk 
immer wieder anklingende me taphorische Kongruenz 
von Mensch und Baum, kulminierend in «La forêt» und 
«La clairière», gehört zu se inen Wurzel n im Symbo- 
lismu s Segantinis und Hodlers. 
Man wird diese zerbrechlichen, nur knapp dem 
Untergang entgangene n, zauberhaften Hölzchen nicht 
mit zu viel Bedeutung belasten wollen – schon das 
Gesagte erweist sie als erstaunlich erhellende Zeug- 
nisse für Albertos Denken um 1935. Gera dezu eine 
Überfüll e von Bezügen drängt sich hingegen bei der 
näheren Betra c htung des wenig spät er ents tande nen 
Flachreliefs mit einem Stillleben 
auf6– 
man könnte 
von einem Pr ogrammw erk, einem sys te matischen 
Offenlegen der künstlerischen Absichten sprechen. 
Auch diese Arbeit bew egt sich an der Gr enze des plas- 
tischen Gestaltens: war bei den Figürchen die Masse 
durch die Kl einheit und Dünnheit des Zweigleins 
extrem r eduziert, so wird dies nun durch die äusserst 
gering e Tiefe der Reliefschicht – kaum zwei Millimeter 
– erreicht: erst im Streiflicht wird das Motiv richtig 
sichtbar . Nur in der merkwürdig substanzlosen Hellig- 
keit des Gipses wird das Erscheinungs hafte künstle- 
risch wirksam, wie dies auch für «Tête qui regarde» 
ebens o wie die spätere «Femme au chariot» gilt. Das 
di ffus Weissliche öffnet den leicht vibrierenden Grund 
auf eine atmende Tiefe. In zwei ovalen Flachreliefs von 
1936 für den «Salle de cinéma et de danse» des Baron 
Ro land de l’Espée hatte A lberto diese Möglichk eit 
noch etwas unsicher 
erprobt,7 während 
das frühere 
Re lief «L ’ Amérique» ganz dem Art déco und s einer 
Flächigkeit v erhaftet 
blieb.8 Diese 
Auftragsarbeiten 
nung gab es mehrere, einst von Giovanni in der lokalen 
Tradition verzierte Holzgegenstände, auch wird man 
von Kirchners umfangreichen Schnitzereien in s einem 
Davoser Haus gehört ha ben. Und die Gebrüder Giaco- 
metti selbst schufen in jenen Jahren in Paris Ausstat- 
tungsstücke wie Lampen und Vasen für den Ensem- 
blier Jean-Michel Frank am F aubour g Saint-Honoré. 
Späte r zerstörte A lberto diese Arbeiten wieder und nur 
diese beiden zierlichen Statuetten überlebten, da er 
sie im Mome nt ihrer Vollendung seiner Cousine Vetia 
Michel in Borgonovo schenk te. In einer Schublade gut 
verräumt, gelangten sie spä ter zu ihrer Nichte Mar grit 
Bühler-Gredig nach U zwil, zu deren Erinnerung sie 
nun von ihren Kindern der A lberto Giacometti-Stiftung 
geschenkt wurden. 
Als Ents tehungsz eit na nnte Diego einma l 1934, ein 
andermal 1938: es sind die Eckdaten, innerhalb derer 
die Figürchen entstanden sein 
dürften.3 1934 
schuf 
A lberto die schwebend thronende, hoch stilisierte 
Frauenfigur, die das «objet invisible» hält; unbefriedigt 
von den glatten F ormen, nahm er gegen Ende Jahr das 
M odells tudium w ieder auf, das seine r Kunst eine neue 
Richtung geben 
sollte.4 Da 
der Körper nicht zu be wäl- 
tigen war, k onzentrierte er sich bald auf den Kopf: die 
beiden Sta tuetten sind die einzigen plastischen Zeu- 
gen s einer damaligen Überlegungen für die ganze 
Figur. Die kleinere schliesst in der Haltung der Arme 
und Beine und der flächigen, auf die linearen Umrisse 
bezogenen Plastizität noch eng an das grosse Werk an, 
das wir im Zus amme nhang mit dem Tod des Vaters 
und s eines Grabmals zu verstehen suchten. In dem 
Figürchen ve rschiebt sich der Ausdruck vom hiera- 
tisch Ba nnenden zum Be ten, die komplementäre Posi- 
tion der religiösen Beziehung, während das Kultbild- 
hafte eher in der grösseren Schnitzerei nachklingt. Ob 
Diegos Bezeichnung der auffälligen Bekrönung als 
Sir ene auf A lberto zur ück geht? Sie würde an den 
T otenvogel am Thron des «Objet invisible» anschlies- 
sen.5 Jedenfalls 
scheint in ihrem Auflodern die Figur 
mit höheren Sphären zu k ommunizier en . Die Gestal- 
tung ihres Körpers ist bereits ganz anders: wesentlich 
lockerer und zugleich organisch schwel l ender, hat sie
	        
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