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Bereits bei Richard Hamiltons berühmter früher Col-
lage «Just what is it...?» (1 956) handel t es sich um ein
Interieur . 1964 beginnt eine vertiefte Aus einande rset-
zung mit der Gattung . In mehreren
Werkserien1 kreuzt
sich ein Interesse am epischen Gehalt alltäglicher
Gegens tände und Gebär den mit der Analyse der spezi-
fischen Erkenntnisse, welche die Gattungsges c hichte
des Interieurs bezüglich der T ransfiguration des All-
täglichen vermittel t . «Interior I» bildet die Quintes s enz
einer Reihe von Werken, welche auf einem Filmstill,
i.e. einem Werbefoto, für den Film
«Shockproof»2
basieren. Hamilton war in Zusa mmenha ng mit seine r
Lehrtätig k eit an der Kuns tak ademie von Newcastle-
upon-T yne auf die F o tografie ges tos sen. Sie zeigt die
Hauptdars te ll erin von «Shockproof», Patricia Kni ght,
neben der Leiche eines soe ben von ihr erschossenen
Mannes. Drei auf dem Foto basierende Col lage-Stu-
dien, eine Zeichnung und eine Ölstudie des Schreib-
tisches sowie eine Ed ition von sechs Öl/Siebdruc k-
V ariationen über die Fotografie f ührten zu «Interior I».
Unmittelbar nachdem er das Zürcher Bild fertig hatte,
malte Hamilton eine zweite Version im se lben F ormat.
Sie unte rscheidet sich hauptsächlich durch die
moderne Möblierung des Raums im Stil der sechziger
Jahre.3
«Urplötzlich scheint sich ein ganze s Leben in die-
sem einen Mome nt zu kristallisieren, da uns die zwei
Personen nicht nur durch den leeren Raum hindurch,
s ondern durch eine Leere in der Zeit gegenübertr e-
te n.»4 Hamiltons
Kommentar zu van Eycks Arnolfini-
Porträt (National Gallery, London) , einem für die Gat-
tungsgeschichte paradigmatischen Interieur, wirft ein
Schlaglicht auf sein Interesse am Filmstill, diese r spe-
ziell en fo tografischen Gattung, welche einen narrati-
ven Abla uf in w enigen Standbildern resümiert – so wie
die malerische Tradition in den Gattungen des Interi-
eurs und des Stilll e bens die Bedeutungs vielf alt der
D inge, in denen und mit denen Me nschen leben sowie
der Gebärden, mit denen sie ihr Inneres ausdrücken,
in einem Augenblick und einer einzigen Ansicht r eprä-
se ntativ bündelt. Bei Filmstills handelt es sich um ela-
borierte Kompositione n und nicht etwa um Sc hnapp-
schüsse von den Dr eharbeite n oder um Einzelbilder
aus dem Film. Anlass für Hamilton, das Still für
«Shockpr oof» zu verwenden, war denn auch die kuns t-
volle Konstruktion der ursprünglichen Aufnahm e. Das
extreme W eitwink e l objektiv v erzerrt die Perspektive
und hätte die Tiefenschärfe massiv in Mitleidenschaft
gezoge n; korrigiert wurde dies durch Tricks: Bei dem
eleganten Interieur hande lt es sich in Wirklichkeit um
ein a symmetrisches Arrangem ent hohler, z.T. flacher
und realiter völ lig inkommensurabler Attrappen, das
sich allein der geometrischen Optik des Kameraobjek-
tivs zu einer Einheit, d.i. zur Illusion eines kohärenten
Innenra ums, zusammenschliesst. Nicht trotz, s ondern
dank dies er Kni ffe schien das Bild Hamilton Zeitstil
und Ze itstimmung der späten vierziger Jahre in einer
hohen V erdichtung und mithin bes ser als jede doku-
mentarische Aufnahme zu repräsentieren – genau so,
wie dies historische Gemälde für frühere Zeite n leis-
ten: «Fünfzehn Jahre wären zu van Eycks Zeit nicht viel
gewesen; aber heute ist dies eine enorme Dist anz;
mich interessierte, was mit unserem Sinn für eine Zeit
in einer beschleunigten Welt
geschieht.»4
Dass Hamilton ein fo tografisches Abbild einer
Filmr e alität auf die Leinw and (respektive die Holztafel)
RICHARD HAMILTON, INTERIOR I, 1964