Volltext: Jahresbericht 2009 (2009)

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grafievonAnnieJoneszuarbeiten,weilsiezweiunter- 
schiedliche Kontexte buchstäblich durchquerte: Diese 
Abbildung eines Körpers wanderte von der Freak Show 
im Zirkus Barnum, wo sie sich gegen Bezahlung als 
‹Wunder› oder als ‹verblüffend› präsentierte, in das 
medizinische Theater, wo sie im Buch Hirschfelds als 
potentieller ‹Patient› gezeigt wurde. Dieser Wandel 
vom ‹Wunder› zur Objektivierung in der Medizin mar- 
kiert zugleich das Wichtiger-Werden der Moderne und 
der Aufklärung.»5 
Neben der Inszenierung des uneindeutigen 
Geschlechts der bärtigen Dame durch Kleidung und 
Pose thematisiert der Film«N.O.Body»dennauchFra- 
gen der Wissensproduktion. In einem klassischen Hör- 
saalsinddiemöglichen Positionen der Wissensproduk- 
tion ja räumlich klar differenziert: die zentrale Position 
desProfessors,dergrosseTisch,derdasObjektdes 
Interesses vorführt, die Tafel, an der die Erkenntnisse 
festgehaltenwerden,unddieZuhörer,dieaufansteigend 
angebrachten Sitzen auf diese Szene hin ausgerichtet 
sind.In«N.O.Body»werdendieseHierarchien aufgelöst: 
DieSitzreihensindleer,undstatt klarer wissenschaftli- 
cherErkenntnissegibtdieProfessorinaliasFreakAnnie 
JonesnureinmerkwürdigirritierendesLachenvonsich 
und inszeniert sich gleichzeitig auf dem grossen Tisch. 
DerFilmfragt,was«inderProduktionvonNormalität 
und Devianz» geschieht, «wenn das ‹Objekt desWis- 
sens› sich auch die Position der Wissensproduzentin 
aneignet»6 und zu lachen beginnt, statt ein sprachlich 
verfasstes Wissen zu lehren. Der Uneindeutigkeit des 
Geschlechts der Protagonistin und Hirschfelds Theorien 
entsprechendhältsichauchdasLachen«andenRän- 
dern und Grenzen eines gesellschaftlichen Machtappa- 
ratesauf,indemesdasausihmAusgeschlosseneund 
Tabuisierte wieder einführt»7. Boudry/Lorenz untersu- 
chenmit«N.O.Body»also,«wiesichheute‹Normalität› 
umarbeiten lässt, wie sich Differenz leben lässt, ohne 
beständige Entmächtigung und ohne den Integrations- 
angeboten neoliberaler Ökonomie zuzuarbeiten».8 
NebendemFilmgehörenauch47Fotografienzur 
Installation. Diese zeigen Abbildungen aus Magnus 
Hirschfelds «Geschlechtskunde, Bilderteil», inklusi- 
Hirschfelds Theorie war sehr umstritten und das 
von ihm 1919 gegründete Institut für Sexualwissen- 
schaftinBerlin–dasersteseinerArtweltweit–wur- 
de 1933 im Zuge der Bücherverbrennung durch die 
Nationalsozialisten geschlossen und verwüstet. Doch 
vorher, zwischen 1926 und 1930, gab Hirschfeld die 
«Geschlechtskunde» heraus, die seine Geschlech- 
tertheorie in mehreren Bänden darlegte3. Boudry/ 
Lorenz griffen für ihre Arbeit auf den Bildband zurück, 
der 1930 erschienen war. «Dieses Buch zeigt auf über 
800 Seiten ausschliesslich Fotografien und Zeichnun- 
genvonMenscheninDrag,vonwelchen,dieinden 
Kleidern des anderen Geschlechts ‹passen›/durch- 
gehen, von Fetischist/innen und SM-Szenarien, von 
verkörperter Geschlechtsuneindeutigkeit und den 
dazugehörigen Kleidungsstücken, von Uniformliebe, 
gleichgeschlechtlichen Paaren oder auch Tieren, die 
als ‹Zwitter› bezeichnet wurden.»4 All diese Bilder ver- 
wendete Magnus Hirschfeld als visuelle Belege seiner 
Geschlechtertheorie. Denn Fotografie spielte für ihn 
hinsichtlich der Kommunikation seiner Theorien und 
ihrer Evidenz eine wichtige Rolle. Seine wissenschaft- 
lichen Vorträge waren daher gewöhnlich auch von 
einer Dia-Präsentation begleitet. 
Diese Art der Präsentation nehmen Boudry/ 
Lorenz im Film «N.O.Body» wieder auf. Das Setting 
zeigt einen Hörsaal des 19. Jahrhunderts. Zu Be ginn 
desFilmessehenwir,wieeineFrauineinemüppi- 
gen Kleid die Tre ppe im Hörsaal hinuntersteigt, um 
eine Vorlesung zu halten. Doch das Verwirrende an 
derSzenerieistnichtnurdasKleidderFrau,sondern 
auch dass sie einen langen Bart trägt. Ganz offe n- 
sichtlich ist sie ein Beispiel für das von Hirschfeld 
definierte «dritte Geschlecht». Die Dias, die sie zeigt, 
stammen denn auch aus Hirschfelds Bildband zur 
«Geschlechtskunde», und die Vorlage für die bär tige 
Dame selbst ist ebenfalls diesem Buch entnommen. 
Es handelt sich um eine Fotografie von Annie Jones, 
einer der berühmtesten Bartdamen ihrer Zeit. Sie 
lebtezwischen1865und1902indenUSAundwurde 
sowohlinAmerikawieauchEuropaals«Freak»zur Schau gestellt. «Wir entschieden uns, mit dieser Foto-
	        
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