Von RICHARD HUELSENBECK
I.
Benvenuto Cellini sehnt sich im
TraumedieSonnenscheibezu sehen,
wir aber wollen sie am Tage fühlen
als mächtig pulsierendes Herz, als
absolute Massregel unserer Per
sönlichkeit, als Ziel unseres Geistes.
Wir hörten zuviel von den Dialogen
der Toten, allzu Künstliches empfing
unser Ohr, so dass wir Gefahr liefen,
Innerlichkeiten zu verlieren. Worte,
Worte, zuviel Worte - die Stille muss
aufstehen und das Ohr muss für das
Orphische heiligster Nächte parat
sein. Es wechseln Tage und Nächte,
Götter fallen von ihrem Thron, das
aber bleibt, wodurch wir wachsen
und Mensch sind. Wir haben ganz
tief in uns hinein zu sehen, um be
greifen zu können, was sich aus
Menschlichem machen lässt und wo
die Synthese aller Fähigkeiten und
Dinge des Menschen zu suchen ist.
Wir müssen ganz ehrfürchtig werden
vor der Gewalt unserer Seele, wenn
wir die Erfahrung erreichen wollen,
die uns sagt, dass das Imponderabil
eines erhabenen Augenblicks eine
bessere Beantwortung komplizier
tester Fragen sein kann, als präzi
seste Berechnung. Die Banalität ist
Wahfheu,dass zu s:oh bst i
muss, wer berufen ist, zu vielem ja-
zusagen.
Der neue Mensch muss die Flü
gel seiner Seele weit ausspannen,
seine inneren Ohren müssen gerichtet
sein auf die kommenden Dinge und
seine Knie müssen sich einen Altar
erfinden, vor dem sie sich beugen
können. Er trägt das Pandämo-
niumnaturae ignotaein sich
selbst und niemand kann etwas dafür
oder dagegen tun. Verrenkt zum
Göttlichen, der Erlösung entgegen
taumelnd wie Fakire, Styliten und
Lumpenmärtyrer aller Jahrhunderte,
die geheiligt worden sind, sieht er
sich eines Tages von der Glut sei
nes Herzens erschlagen, verzehrt,
niedergerissen—er der Jauchzende,
Irrende, paralytisch Verzückte. Ahoi,
ahoi, Geissein und Hussah, Kriege
seitAeonen her und doch Mensch,
der neue Mensch, gleichsam aus
allen Aschen erstanden, von den
Toxinen phantastischster Welten
genesen, mit dem Erleben der Pros-
kribierten, Vertierten, mit Kot und
den teuflischen Ingredienzien be
schmierten Europäer,Afrikaner, Poly
nesier jeder Art, jeden Geschlechts
gesättigt, saturiert, vollgestopft bis
zumEckel: sieh da,derneue Mensch.
Er hat seine Kraft, die in zwei
Vertikalen zum Himmel federt, doch
liegt in der Ausbreitung nach oben
nichts Gewaltsames und die Mystik
der Steigerung ist nicht abenteuer
licher als ein buon giorno oder
ein felicissima notte. Der
neue Mensch findet sich selbst in
ekstatischer Erlösung, er betet sich
selbst an, so wie Maria den Sohn
anbetet. Ipsum quem genuit adoravit
Maria.
Der neue Mensch ist nicht neu,
weil die Zeit es so will, die Neu
orientierung, das Umsichtasten aller
Blindlinge und Maulwurfsmenschen
— er ist nicht die unterirdische
Quelle, die auf die Axt des Barbaren
wartet, um eine Verwendung zu
finden — er ist nicht neu, weil ge
ht! i@rt wird wie gemüllert wurde (der
Tanz der Aktivisten, dieser Libertins
der trockenen Seele ist einGeräusch
vor seinen Händen) — er ist der
Gott des Augenblicks, die Grösse
der seligen Affekte, der Phönix aus
dem gutem Widerspruch und er ist
Reklame*
immer neu, de»- homc novus eigenen
Aaeis, weil sein Herz ihm in jeder
Minute die Alternative bereit hält:
Mensch oder Unmensch. Seine
Wurzel zieht Kräfte ausmykenischem
Zeitalter (die Thyrsusstäbe und
Schellenklappen antikerTänzerinnen
sind sein Nachmittagsgespräch) —
er lebt einen Tag wie Lukian, wie
Aretin und wie Christus — er ist
alles und nichts, nicht heute, nicht
gestern.
II.
Man muss von ihm erzählen wie
von einem Vater, der gestern starb —
die Erinnerung an ihn überwältigt
uns, so sehr sind wir noch er selbst.
Seine beste Charaktereigenschaft ist
die Demut, die grosse Demut, die
nichts verzeiht, weil sie alles versteht
und niemals straft. Alles Magister
hafte ist ihm fremd, er kennt kein
System für Lebendes, Chaos ist ihm
willkommen als Freund, weil er die
Ordnung in seiner Seele trägt. Er
liebt das Meer mehr als die Berge,
weil es Symbol des Volkes ist, der
Masse, der Verjüngung, des noch
Nichts, des grossen Formenkorbes,
des Materials aller göttlichen Sta
tuetten. Seine Stirn ist hoch und
weit und umfasst die menschlichsten
Dinge, die Perlenkette der tabe-
tischen Primadonna wie das Dekokt
des besoffenen Kurpfuschers, den
Harlekin der Strasse wie den De
menten im Winkel der Krankenhäuser.
Er kann sich so lächerlich machen.
dass er mit jeder Geste seiner Hand
an das Zwerchfell der versammelten
Zuschauer rührt. Dann wird er zum
Buckligen(zugleichhochgewachsen),
der eine Rose im Knopfloch trägt
und einen Orden auf dem Gesäss.
Sein Gesicht leuchtet roter als Mohn,
täuschtalle Farben vor,grau,violetten,
hat den Perlmuttglanz venezianischer
Schultern und schreit sich wie ein
Marktschreier in die lachlustigen
Herzen der Zuschauer. Die kleinen
Mädchen werfen Aepfel nach dem
Bauch seine Hänge-Hose, Steine
werfen sie nach dem Schwein, das
er sich als Haustier hält. Aber der
neue Mensch entkleidet sich aller
Häute, aller Brillen, Perrücken,
Postichen und Schürzenbänder—er
tritt von der Bühne, die er für nötig
hält, mit wachsamem Schritt: sieh da
der neue Mensch, welch ein Held
bleibt er inmitten der grausamsten
Lächerlichkeiten, welche Kraft in
seiner Hose, welche Erhabenheit in
seiner Armmuskulatur — er ist es,
der den Menschen ihre Würde zu
rückgibt und sie in ihrem Elend auf-
Celephon: Tempelhof 988, fiützow 3553
zurichten sucht. Wenn er von den
Maiern erzählt, die die Madonna
malten, weil sie sich in göttliche
Augen verliebt hatten (wer verliebt
sich heute in göttliche Augen) fallen
alle Streifheiten von seinem Buckel
und dem Buckel der Umstehenden.
Seine Stimme ist in der Glocke, die
man über dem Marktplatz läutet —
ave, ave Maria. Der neue Mensch
ist nicht für oder wider, er kennt
keine Schmerzen der Polarität und
Nationalitäten bedeuten ihm längst
keine Gegensätze mehr. ,,Sie irren
sich alle“, sagt er, „die an den Wert
einer aristokratischen Lebensord
nung glauben. Alle Aristokratien, die
wir sehen oder gar die Aristokratien
der Bildung, des Reichtums, des Na
mens sind wertlos; denn es gibt nur
die eine Seele, den einen Elan, die
eine Tapferkeit, die jeder Mensch
besitzt. Alle Pluralität ist ein Ge
schwätz und noch kein Treppenwitz
der Weltgeschichte — ein Affe, der
sich putzt, ist darum nicht mehr als
sein Nachbar. Ja — so — ganz gleich
tut ihres mit angenommenen Eigen
schaften, die ihr überschätzt — und
wer sich nicht an einsamen Seen
auf die Kiesel geworfen und seine
Knie zerfleischt hat, ist ein Dieb am
Leben. Falsch ist der Gedanke, dass
mit derMacht der Geistigen eine Ver
besserung der Welt erreicht werden
könne — ach das Gegenteil wird
sein; denn wir kennen die kleinen
Arroganzen der Geistlinge und
umgeschlagenen Literaten, die ihren
dyspeptischen Tenor wie ein kost
bares Wickelkind durch die lang
weiligen Räume der Revuen tragen,
ohne der Langeweile Weisheit je
mals begriffen zu haben. Die Macht
ist Attribut und Glanz des Bösen und
darum erstrebenswert (auch für die
Frommen, die doch nur leben, weil
es Böses gibt). Wem fehlte nicht
bald in euerer Welt das schöne und
grausame Vergnügen, mit Dick-
teufeln zu kämpfen? Verbessern?
O — mon cheri — verbessere jene
force extraordinaire Deiner Seele
und vergiss nicht, dass sie zugleich
deine force sexuelle ist. Glaub nicht
an das Geschrei der Kastraten und
Schwachbrüstigen,die die Folter aus
der Welt schaffen wollen und denke
an die Memoiren des Totenhauses“.
Der neue Mensch glaubt nicht
an die Phalanx der Geistigen, da er
alle Schlachtordnungen in seinem
merzen trägt.
III.
Der neue Mensch glaubt, nur
einen Kampf zu kennen, den Kampf
gegen die Trägheit, den Combat
gegen die Dicken. Es handelt sich
um das alte Gefecht der Dünnen
gegen die Dicken, mein lieber Paul
Beyer. Ronsard singt ein Lied gegen
die Schwerköpfigen, die Igel, die
Pfosten und Fels mauern — und so
wünscht sich der neue Mensch das
Schwert St. Georgs für seinen
Drachen. Er sieht einen Baum an
und findet, dass er nur die Fiktion
eines Baumes vor sich hat, denn er
sieht nur den Elan jeder Zelle, gross
zu werden. Ein Baum, scheint ihm,
ist nur Leidenschaft und Sehnsucht
nach der Krone. Ja — er — der
demütigste Mensch sucht sich seine
Feinde (die rachitischen Möpse und
Jungfern, die Pf äff lein der Tempe
ramentlosigkeit) und er hat eine aus
gemachte artistische Befähigung,
sich seine Bürger aus den Löchern
zu jagen. Sein Feind ist der Un
ehrliche (der neue Mensch ist ehr
lich und wahrhaft, ganz männlich, holz
geschnitzt auch in pervertiertesten
Lastern) der Halbe, der Dauerlügner
und Trunkenbold eigener Hohlheit.
Der Feind ist der Rufer an Europa
(jener „späte Schwabingknabe“) der
den Mist seines Hauses nicht ent
fernt hat — der Rhytmenklüngel und